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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Beschreibungen und Analysen die Welt aufgebraucht und nichts mehr für die Literatur übrig gelassen hatten. Der einzige Weg nach vorn, folgerte Renard, war der der Verdichtung, des Kommentars, des Pointillismus. Sartre pries in einer grandiosen und ziemlich missgünstigen Hommage an die Tagebücher eher Renards Dilemma als dessen Lösung: »Er steht am Ursprung vieler anderer moderner Versuche, das Wesen des einzelnen Gegenstands zu erfassen«, und »Wenn mit ihm die moderne Literatur beginnt, dann deshalb, weil er eine vage Vorstellung von einem Terrain hatte, das zu betreten er sich verbot.« Gide, dessen eigenes Tagebuch sich mit Renards über viele Jahre hinweg überschneidet, klagte (vielleicht aus Konkurrenzneid), dessen Tagebücher seien »kein Fluss, sondern eine Destille«, wenngleich er später zugab, sie »voller Entzücken« gelesen zu haben.
    Hätten Sie lieber eine Destille oder einen Fluss? Das Leben in Form einiger Tropfen von Hochprozentigem oder eines Liters von normannischem Cidre? Der Leser kann wählen. Der Schriftsteller hat wenig Einfluss auf die persönliche Veranlagung, gar keine auf den historischen Augenblick und ist nur zum Teil Herr über die eigene Ästhetik. Das Destillieren war Renards Antwort auf die vorangegangene Literatur und zugleich Ausdruck seines jedem Überschwang abholden Wesens. 1898 notierte er: »Man kann von fast allen literarischen Werken behaupten, dass sie zu lang sind.« Diese Bemerkung steht auf Seite 400 seiner tausendseitigen Tagebücher, eines Werks, das noch um die Hälfte länger gewesen wäre, hätte Renards Witwe nicht alle Seiten verbrannt, die Außenstehende ihrer Meinung nach nicht sehen sollten.
    In den Tagebüchern widmet er sich der Welt der Natur mit äußerster Präzision und schildert sie mit unsentimentaler Bewunderung. Der Welt des Menschen widmet er sich mit derselben Präzision und schildert sie mit Skepsis und Ironie. Aber im Gegensatz zu vielen anderen verstand er auch Wesen und Funktion der Ironie. Am 26 . Dezember 1899 , kurz vor Beginn des Jahrhunderts, das diese am dringendsten brauchen sollte, schrieb er: »Ironie lässt das Gras nicht vertrocknen. Sie brennt nur das Unkraut fort.«

    Renards Freund Tristan Bernard, ein nie um einen geistreichen Einfall verlegener Dramatiker, winkte einmal einen Leichenwagen heran wie ein Taxi. Als das Gefährt hielt, fragte er nonchalant: »Sind Sie frei?« Renard kam mehrfach in Rufweite des Todes, bevor er mit sechsundvierzig Jahren selbst von ihm ereilt wurde. Ein paar Mal forderte der Tod seine besondere Aufmerksamkeit:
    1 ) Im Mai 1897 entfernt Renards Bruder Maurice den Revolver des Vaters vom Nachttisch, angeblich, um die Waffe zu reinigen. Es kommt zu einem Familienstreit. François Renard kann dem Vorgehen seines Sohnes wie auch dessen Entschuldigung wenig abgewinnen: »Er lügt. Er hat Angst, ich könnte mich umbringen. Aber wenn ich das wollte, würde ich nicht dieses Gerät wählen. Womöglich macht es mich nur zum Krüppel.« Jules’ Frau ist entsetzt: »Hör auf, so zu reden«, verlangt sie. Doch der Bürgermeister von Chitry lässt sich nicht beirren: »Nein, ich würde keine halben Sachen machen. Ich würde meine Schrotflinte nehmen.« Jules meint hämisch: »Am besten, du nimmst eine Klistierspritze.«
    Doch François Renard weiß oder glaubt zumindest, dass er unheilbar krank ist. Vier Wochen später schließt er die Schlafzimmertür ab, nimmt seine Flinte und drückt mit Hilfe eines Spazierstocks ab. Es gelingt ihm, beide Läufe abzufeuern, um ganz sicherzugehen. Jules wird gerufen und bricht die Tür auf; das Zimmer ist voller Rauch, Pulvergeruch hängt in der Luft. Zuerst meint er, sein Vater habe sich einen Scherz erlaubt; dann zwingen ihn die ausgestreckt daliegende Gestalt, die blinden Augen und der »dunkle Fleck über der Taille, wie ein kleines erloschenes Feuer«, an die Wahrheit zu glauben. Er greift nach den Händen seines Vaters; sie sind noch warm, noch biegsam.
    François Renard, Selbstmörder und Kirchenfeind, ist der erste Mensch, der auf dem Friedhof von Chitry ohne kirchlichen Segen bestattet wird. Jules meint, sein Vater sei heldenhaft gestorben und habe römische Tugenden bewiesen. Er notiert: »Letztendlich hat sein Tod zu meinem Stolz beigetragen.« Sechs Wochen nach der Beerdigung befindet er: »Der Tod meines Vaters gibt mir ein Gefühl, als hätte ich ein wunderbares Buch geschrieben.«
    2 ) Im Januar 1900 bricht Maurice Renard, siebenunddreißigjähriger

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