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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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ohne ein einziges Kästchen auszufüllen. »Nach dem Mittagessen pflegte er ein Nickerchen zu machen und ab und zu etwas wie Erdferkel oder Buckelochse vor sich hin zu murmeln.«

    »Ich weiß nicht, ob es Gott gibt, aber es wäre besser für seine Reputation, wenn es ihn nicht gäbe.« – »Gott glaubt nicht an unseren Gott.« – »Ja, Gott existiert, aber er weiß nicht mehr davon als wir.« Verschiedene Hypothesen von Jules Renard, einem meiner toten französischen Verwandten im Geiste. Er wurde 1864 geboren und wuchs im Departement Nièvre auf, einer ländlichen und wenig besuchten Gegend im Norden Burgunds. Sein Vater François war Baumeister und stieg dann zum Bürgermeister seines Dorfes Chitry-les-Mines auf. Er war schweigsam, antiklerikal und hielt sich strikt an die Wahrheit. Die Mutter, Anne-Rosa, war geschwätzig, bigott und verlogen. Der Tod ihres erstgeborenen Kindes verbitterte François derart, dass er sich kaum um die nächsten drei kümmerte: Amélie, Maurice und Jules. Nach der Geburt des Jüngsten sprach François nicht mehr mit Anne-Rosa und richtete in seinen verbleibenden dreißig Lebensjahren nie wieder das Wort an sie. In diesem stummen Krieg wurde Jules – dessen Sympathie dem Vater galt – oft als Mittelsmann und porte parole eingesetzt; keine beneidenswerte Rolle für ein Kind, wenn auch lehrreich für einen künftigen Schriftsteller.
    Ein Gutteil dieser Erziehung ist in Renards bekanntestes Werk Poil de Carotte ( Rotfuchs) eingeflossen. Vielen Leuten in Chitry gefiel dieser Schlüsselroman nicht: Jules, der rothaarige Junge aus dem Dorf, war nach Paris gegangen, war dort zum Intellektuellen geworden und hatte ein Buch über einen rothaarigen Dorfjungen geschrieben, mit dem er seine eigene Mutter an den Pranger stellte. Wichtiger noch, Renard stellte das ganze sentimentale Kindheitsbild, wie Hugo es hinlänglich gezeichnet hatte, an den Pranger und trug damit zu dessen Ende bei. Alltägliche Ungerechtigkeit und instinktive Grausamkeit sind hier die Norm, Momente lieblicher Idylle die Ausnahme. Renard lässt sein kindliches Alter Ego nie in retrospektives Selbstmitleid verfallen, jenes Gefühl (das üblicherweise in der Pubertät aufkommt, aber ewig dauern kann), das viele Kindheitsverarbeitungen unecht macht. Für Renard war ein Kind »ein kleines, notwendiges Tier, weniger menschlich als eine Katze«. Dieser Satz stammt aus seinem Meisterwerk, den Tagebüchern, die er von 1887 bis zu seinem Tod im Jahre 1910 führte.
    Renard blieb trotz seines hauptstädtischen Ruhms in Nièvre verwurzelt. In Chitry und im Nachbardorf Chaumont, wo er als Erwachsener wohnte, kannte er Bauern, die noch so lebten wie seit Jahrhunderten: »Der Bauer ist die einzige Spezies Mensch, die das Land nicht liebt und es nie anschaut.« Dort beobachtete er Vögel, Tiere, Insekten und Bäume und erlebte das Aufkommen von Eisenbahn und Automobil, die in ihrem Zusammenspiel alles verändern sollten. 1904 wurde er seinerseits zum Bürgermeister von Chitry gewählt. Seine Amtsgeschäfte – die Vergabe von Schulpreisen, der Vollzug von Trauungen – bereiteten ihm Vergnügen. »Meine Rede rührte die Frauen zu Tränen. Die Braut bot mir die Wange zum Kusse dar und sogar ihren Mund; es kostete mich 20 Francs.« Politisch war er ein sozialistischer, antiklerikaler Dreyfusard. Er schrieb: »Als Bürgermeister bin ich für die Instandhaltung der Landstraßen zuständig. Als Dichter sähe ich sie lieber vernachlässigt.«
    In Paris war er mit Rodin und Sarah Bernhardt, Edmond Rostand und Gide bekannt. Seine Tiergeschichten wurden von Bonnard und Toulouse-Lautrec illustriert, und Ravel vertonte einige davon. Einmal sekundierte Renard bei einem Duell, bei dem der gegnerische Sekundant Gauguin war. Doch er konnte in solcher Gesellschaft auch eine trübsinnige, unversöhnliche und brummige Figur abgeben. Zu Daudet, der freundlich zu ihm gewesen war, sagte er einmal: »Ich weiß nicht, ob ich Sie liebe oder verabscheue, mon cher maître « –»Odi et amo«, erwiderte Daudet ungerührt. Für die Pariser Gesellschaft war Renard bisweilen ein unergründliches Rätsel. Ein Intellektueller charakterisierte ihn einmal als ein »Kryptogramm vom Lande« – wie diese Zinken, die Landstreicher einst mit Kreide an die Häuser malten und die nur andere Landstreicher entschlüsseln konnten.
    Renard schrieb Prosa zu einer Zeit, als das Ende des Romans gekommen schien, als Flaubert, Maupassant, Goncourt und Zola mit ihren großen

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