Nichts, was man fürchten müsste
er, sich lieber zu Tode zu hungern. Damals brauchte man dazu keinen Antrag bei Gericht zu stellen und sich auf die unabänderliche Verschlechterung der »Lebensqualität« zu berufen: Als freier Römer teilte Atticus seinen Entschluss lediglich seinen Freunden und Angehörigen mit, dann verweigerte er die Nahrungsaufnahme und wartete auf das Ende. Darin hatte er sich gründlich getäuscht. Die Abstinenz erwies sich auf wundersame Weise als das beste Heilmittel für seine (namenlose) Krankheit, und bald war der Kranke unbestreitbar auf dem Wege der Besserung. Es wurde gejubelt und gefeiert; vielleicht zogen die Ärzte sogar ihre Rechnungen zurück. Doch Atticus unterbrach die allgemeine Fröhlichkeit. Da wir alle einmal sterben müssen, verkündete er, und da ich auf dem Weg dorthin bereits so weit gediehen bin, habe ich kein Verlangen danach, jetzt umzukehren, nur um ein andermal wieder von vorn zu beginnen. Und so verweigerte er zur bewundernden Bestürzung seiner Umgebung weiterhin die Nahrungsaufnahme und starb seinen beispielhaften Tod.
Da wir den Tod nicht besiegen können, hielt Montaigne es für den besten Gegenangriff, seiner ständig gewärtig zu sein: an den Tod zu denken, sobald das Pferd ins Stolpern gerät oder ein Ziegelstein vom Dach fällt. Man sollte den Geschmack des Todes im Mund und seinen Namen auf der Zunge haben. Wer so auf den Tod gefasst ist, befreit sich aus dessen Knechtschaft; ja, wer andere das Sterben lehrt, der lehrt sie zu leben. Dieses fortwährende Todesbewusstsein macht Montaigne nicht traurig; vielmehr entwickelt er dadurch einen Hang zu Fantastereien und Tagträumen. Er hofft, der Tod, sein Gefährte, sein Vertrauter, werde ihn bei seinem letzten Besuch bei einer ganz gewöhnlichen Beschäftigung antreffen – etwa während er seine Kohlköpfe pflanzt.
Montaigne erzählt auch die lehrreiche Geschichte des römischen Caesaren, an den ein alter, hinfälliger Soldat herantritt. Der Mann hatte einst unter ihm gedient und bittet nun um die Erlaubnis, sich von seinem beschwerlichen Leben zu befreien. Caesar mustert den Greis von oben bis unten und fragt ihn dann mit dem rauen Humor, der offenbar mit dem Feldherrnrang einhergeht: »Wieso glaubst du, was du jetzt hast, das ist Leben?« Für Montaigne ist der Tod der Jugend, der oft unbemerkt bleibt, der schlimmere; was wir gewohnheitsmäßig den »Tod« nennen, ist nichts als der Tod des Alters (zu seiner Zeit um die vierzig, heute mit siebzig und darüber). Der Sprung von der eingeschränkten Altersexistenz zum Nicht-Sein ist viel leichter als der verstohlene Übergang von der unbeschwerten Jugend zum griesgrämigen, selbstmitleidigen Alter.
Nun drückt sich Montaigne immer sehr prägnant aus, und wenn ein Argument nicht überzeugt, hat er noch viele andere zu bieten. Zum Beispiel: Wer gut gelebt und das Leben bis zur Neige ausgekostet hat, der wird es gern hingeben; wer dagegen das Leben nicht zu nutzen verstand und es elend fand, der wird seinen Verlust nicht bedauern. (Eine Behauptung, die sich ohne Weiteres umkehren ließe: Die erste Gruppe könnte doch wollen, dass ihr glückliches Leben bis in alle Ewigkeit weitergeht, die zweite auf eine glückliche Wende hoffen.) Oder: Wer nur einen einzigen Tag wahrhaft und im vollsten Sinne gelebt hat, der hat alles gesehen. (Nein!) Na schön, wer ein ganzes Jahr so gelebt hat, der hat alles gesehen. (Immer noch nein.) Jedenfalls sollte man auf der Welt Platz machen für andere, wie andere für uns Platz gemacht haben. (Ja, aber ich habe sie nicht darum gebeten.) Und wozu klagen, dass man sein Leben lassen muss, wenn alle anderen es auch müssen? Man denke nur, wie viele andere am selben Tag sterben werden. (Stimmt, und einige von denen sind darüber bestimmt genauso sauer wie ich.) Und schließlich: Was willst du eigentlich genau, wenn du dich gegen den Tod auflehnst? Willst du ein ewiges Leben hier auf Erden, und das zu den momentan geltenden Bedingungen und Konditionen? (Das Argument leuchtet mir ein, aber wie wärs mit ein bisschen ewigem Leben? Einem halben? Okay, ich nehm auch ein viertel.)
Mein Bruder macht mich darauf aufmerksam, dass der erste Witz über Zellerneuerung schon im 5 . Jahrhundert vor Christus gemacht wurde; es ging da um »einen Burschen, der seine Schulden nicht zurückzahlen wollte mit der Begründung, er sei nicht mehr der Bursche, der sich das Geld geliehen habe«. Des Weiteren meint er, ich hätte Montaignes berühmten Spruch philosopher, c’est apprendre à
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