Nichts, was man fürchten müsste
Gebete nicht erhört wurden, gab sich das ziemlich schnell. Wahrscheinlich bin ich Agnostikerin oder gar Atheistin.«
Ich freue mich, dass sie die Familientradition aufrechterhält, die Religion aus trivialen Gründen aufzugeben. Mein Bruder, weil er den Verdacht hatte, George VI. sei nicht in den Himmel gekommen; ich, um mich nicht vom Onanieren ablenken zu lassen; meine Nichte, weil das, worum sie gebetet hatte, nicht umgehend geliefert wurde. Dabei ist dieses unbekümmert unlogische Verhalten vermutlich ganz normal. Der Biologe Lewis Wolpert etwa erklärt: »Ich war ein recht religiöses Kind, sagte jeden Abend mein Gebet auf und bat Gott verschiedentlich um Hilfe. Das brachte offenbar nichts, und mit etwa sechzehn Jahren gab ich das Ganze auf und bin seitdem Atheist.« Niemand von uns hat später darüber nachgedacht, dass das Kerngeschäft Gottes – so es ihn denn geben sollte – vielleicht nicht darin besteht, den Freund und Helfer in pubertären Krisen, den Warenlieferanten oder Onanisten-Peiniger zu spielen. Nein, weg mit ihm, ein für alle Mal.
Bei Umfragen zur religiösen Einstellung lautet eine verbreitete Antwort etwa so: »Ich gehe nicht zur Kirche, aber ich habe meine eigene Vorstellung von Gott.« Auf solche Aussagen reagiere nun ich wie ein Philosoph. Sentimentaler Quatsch, rufe ich. Du hast vielleicht eine eigene Vorstellung von Gott, aber hat Gott auch eine eigene Vorstellung von dir? Das ist nämlich der springende Punkt. Ob er nun ein alter Mann mit einem weißen Bart ist, der im Himmel sitzt, eine Lebenskraft, eine höhere Macht ohne eigene Interessen, ein Uhrmacher, eine Frau, eine nebulöse moralische Instanz oder rein gar nichts – es kommt allein darauf an, was er, sie, es oder Nichts von dir denkt und nicht umgekehrt. Die Idee, du könntest dir die Gottheit so zurechtdefinieren, wie es dir passt, ist grotesk. Und es ist genauso egal, ob Gott gerecht oder gütig oder auch nur aufmerksam ist – wofür es erschreckend wenig Beweise gibt –, wichtig ist nur, dass es ihn gibt.
Der einzige alte Mann mit einem weißen Bart, den ich als Kind kannte, war mein Urgroßvater, der Vater des Vaters meiner Mutter: Alfred Scoltock, der aus Yorkshire stammte und (naturgemäß) Lehrer war. Es gibt ein Foto, auf dem mein Bruder und ich rechts und links von ihm in einem jetzt nicht mehr zu identifizierenden Garten stehen. Mein Bruder ist vielleicht sieben oder acht Jahre alt, ich bin vier oder fünf, und Urgroßopa ist steinalt. Sein Bart ist nicht lang und wallend wie in den Karikaturen von Gott, sondern gestutzt und stoppelig. (Ich weiß nicht, ob das Kratzen dieses Bartes an meiner kindlichen Wange wirklich geschehen oder nur die Erinnerung an eine Befürchtung ist.) Mein Bruder und ich posieren proper und lächelnd – ich lächelnder als er – in kurzärmeligen Hemden, die unsere Mutter schön geplättet hat; meine kurzen Hosen haben noch anständige Bügelfalten, während seine ganz entsetzlich verknittert sind. Urgroßopa lächelt nicht und wirkt in meinen Augen leicht gequält, als wisse er, dass er für eine Nachwelt aufgenommen wird, an deren Schwelle er direkt steht. Als ein Freund dieses Foto sah, nannte er ihn scherzhaft meinen »chinesischen Vorfahren«, und tatsächlich hat er etwas leicht Konfuzianisches an sich.
Ich habe keine Ahnung, wie weise er wirklich war. Laut Aussage meiner Mutter, die immer die Männer in ihrer Familie bevorzugte, war er ein hochintelligenter Autodidakt. Dafür wurden rituell zwei Beispiele angeführt: dass er sich selbst das Schachspielen beigebracht hatte und es auf hohem Niveau beherrschte, und dass er sich, als meine Mutter während ihres Sprachenstudiums an der Birmingham University als Austauschstudentin nach Nancy fuhr, mit einem Buch Französisch beibrachte, damit er sich mit ihrer Brieffreundin unterhalten konnte, wenn die beiden jungen Frauen wieder zurückkamen.
Mein Bruder ist ihm mehrmals begegnet, doch seine Erinnerungen an ihn sind weniger schmeichelhaft und erklären vielleicht, warum sein Lächeln auf dem Foto verhaltener ist als meins. Der Familien-Konfuzius habe »grauenvoll gestunken« und sei von seiner Tochter (Tantchen Edie) begleitet gewesen, die »unverheiratet, leicht bekloppt und über und über von Ekzemen bedeckt war«. An Schachspiel oder französische Konversation kann mein Bruder sich nicht erinnern. In seinem Gedächtnis ist lediglich Urgroßopas Fähigkeit gespeichert, das Kreuzworträt sel in der Daily Mail zu lösen,
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