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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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aufgenommen hat; im reifen Alter wurde der Sänger dann so spöttisch antireligiös, wie er in jüngeren Jahren ständig von Gott reden musste. Doch dieses frühe, schaudernd aufrichtige Chanson bringt das Ganze auf den Punkt. Wenn es wahr wäre, dann wäre es schön; und weil es schön wäre, wäre es noch wahrer; und je wahrer, desto schöner, und so immer weiter. JA, ABER ES IST DOCH NICHT WAHR , DU IDIOT , höre ich den Zwischenruf meines Bruders. Dieses Geschwafel ist ja noch schlimmer als die hypothetischen Wünsche, die du unserer toten Mutter unterstellst.
    Das ist sicher richtig; aber die christliche Religion hatte nicht nur deshalb so lange Bestand, weil auch alle anderen daran glaubten, weil sie vom Herrscher und der Priesterschaft aufgezwungen wurde, weil sie ein Instrument der gesellschaftlichen Kontrolle war, weil es weit und breit keine andere Geschichte gab und weil man ein rasches Ende gefunden hätte, wenn man nicht daran geglaubt oder seinem Unglauben allzu lautstark Ausdruck verliehen hätte. Sie hatte auch deshalb Bestand, weil sie eine schöne Lüge ist, weil die darin auftretenden Personen, die Handlung, die verschiedenen coups de théâtre, der alles überwölbende Kampf zwischen Gut und Böse einen großartigen Roman ergeben. Die Geschichte von Jesus – hehre Mission, Auflehnung gegen die Unterdrücker, Verfolgung, Verrat, Hinrichtung, Wiederauferstehung – ist ein ideales Beispiel für die Formel, nach der Hollywood bekanntlich fieberhaft sucht: eine Tragödie mit Happy End. Die Bibel als »Literatur« zu lesen, wie es uns der listige alte Schulmeister damals nahelegen wollte, ist nichts gegen das Unterfangen, die Bibel als Wahrheit zu lesen, eine durch Schönheit bestätigte Wahrheit.
    Ich besuchte in London ein Konzert mit meinem Freund J. Welches geistliche Choralwerk wir dort hörten, ist meinem Gedächtnis entfallen, nicht aber seine anschließende Frage: »Wie oft hast du dabei an den auferstandenen Jesus gedacht?« – »Gar nicht«, antwortete ich. Ich überlegte, ob J. selbst an den auferstandenen Jesus gedacht hatte; schließlich ist er der Sohn eines Geistlichen und hat die Angewohnheit – als Einziger meiner Bekannten – zum Abschied »God bless« zu sagen. Ob das ein Hinweis auf einen Glaubensrest ist? Oder einfach nur ein sprachliches Überbleibsel, wie man in einigen Gegenden Deutschlands »Grüß Gott« sagt?
    Dass ich Gott vermisse, erlebe ich am deutlichsten dann, wenn ich bei religiöser Kunst nichts von dem tieferen Sinn und Glaubensinhalt verspüre. Das ist eine der hypothetischen Fragen, die Nichtgläubige umtreibt: Wie wäre das, »wenn es wahr wäre« … Angenommen, man hört Mozarts Requiem in einer großen Kathedrale – oder Faurés Fischermesse in einer salzwasserfeuchten Kapelle hoch oben auf einer Klippe – und nimmt den Text für bare Münze; angenommen, man liest Giottos heiligen Comicstrip in der Kapelle von Padua als Non-Fiction; angenommen, man sieht in einem Donatello das wahre Gesicht der Leiden Christi oder das Antlitz der weinenden Magdalena. Das würde dem Ganzen doch – gelinde gesagt – zusätzlichen Pep verleihen, nicht wahr?
    Das mag wie ein banaler und vulgärer Wunsch erscheinen, wie das Verlangen nach mehr Benzin im Tank, mehr Alkohol im Wein, einer besseren (oder irgendwie reicheren) ästhetischen Erfahrung. Es ist aber doch mehr. Edith Wharton verstand, wie das ist – und wie nachteilig es ist –, wenn man Kirchen und Kathedralen bewundert und nicht mehr an das glaubt, wofür diese Gebäude stehen; und sie hat den Versuch beschrieben, sich innerlich Jahrhunderte zurückzuversetzen, um das zu begreifen und zu empfinden. Doch selbst der beste Zeitreisende im Geiste kann letztlich nicht genau das empfinden, was ein Christ beim Anblick der frisch eingesetzten Buntglasfenster in der Kathedrale von Bourges, beim Hören einer Bach-Kantate in der Leipziger Thomaskirche oder bei der Wiederbegegnung mit einer altbekannten biblischen Geschichte auf einem Rembrandt’schen Kupferstich empfunden hätte. Dem Christen wäre es vermutlich mehr um Wahrheit gegangen als um Ästhetik; oder zumindest hätte er sich bei seinem Urteil über die Größe eines Künstlers davon leiten lassen, wie effektiv und originell (oder auch vertraut) die Lehren der Religion dargelegt wurden.
    Spielt es eine Rolle, wenn wir die Religion aus der religiösen Kunst herausnehmen, wenn wir diese Kunst zu bloßen Farben, Strukturen, Geräuschen ästhetisieren und

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