Nichts, was man fürchten müsste
Bauleiter im Straßenbauamt und anscheinend völlig gesund, in seinem Pariser Büro zusammen. Er hatte sich seit jeher über die Dampfheizung in dem Gebäude beklagt. Eine Hauptleitung verlief direkt hinter seinem Schreibtisch, und die Temperatur stieg oft auf 2 0 Grad. »Die bringen mich noch um mit ihrer Zentralheizung«, pflegte der Junge vom Lande zu prophezeien; doch eine Angina Pectoris erweist sich als gefährlicher. Maurice will am Feierabend eben sein Büro verlassen, als er am Schreibtisch ohnmächtig wird. Man trägt ihn vom Stuhl zu einer Couch, er hat Atembeschwerden, spricht kein einziges Wort und ist innerhalb weniger Minuten tot.
Wieder wird Jules gerufen, der sich zu der Zeit in Paris aufhält. Er sieht seinen Bruder mit angezogenem Knie quer über der Couch liegen; die erschöpfte Pose erinnert ihn an den Tod des Vaters. Unwillkürlich nimmt der Schriftsteller das improvisierte Kissen wahr, auf dem der Kopf seines toten Bruders ruht: ein Pariser Telefonbuch. Jules setzt sich und weint. Seine Frau nimmt ihn in die Arme, und er spürt ihre Angst, dass er der Nächste sein könnte. Sein Blick fällt auf eine schwarz gedruckte Annonce am Rand des Telefonbuchs; er versucht, sie aus der Entfernung zu lesen.
In der Nacht halten Jules und seine Frau die Totenwache. Jules hebt immer wieder das Taschentuch vom Gesicht seines Bruders, schaut den halb geöffneten Mund an und wartet darauf, dass dieser wieder zu atmen beginnt. Während die Stunden vergehen, scheint die Nase fleischiger zu werden, die Ohren hingegen hart wie Muschelschalen. Am Ende ist Maurice völlig steif und kalt. »Sein Leben ist jetzt in die Möbel übergegangen, und jedes leise Knarren lässt uns erschauern.«
Drei Tage später wird Maurice in Chitry begraben. Der Priester erwartet, dass man ihn holt, wird aber abgewiesen. Jules geht hinter dem Leichenwagen her, sieht die Kränze schwanken und denkt, das Pferd biete einen Anblick, als sei es am Morgen noch eigens mit schmutzig schwarzer Farbe angestrichen worden. Als der Sarg in die tiefe Familiengruft hinabgelassen wird, erblickt er am Rand des Grabes einen fetten, offenbar hocherfreuten Wurm. »Wenn Würmer sich spreizen könnten, hätte sich dieser gespreizt.«
Jules befindet: »Ich empfinde nichts als eine Art Ärger über den Tod und seine idiotischen Tricks.«
3 ) Im August 1909 hockt ein kleiner Junge mitten in Chitry auf einem Karren und sieht eine Frau auf dem steinernen Rand des Dorfbrunnens sitzen und dann plötzlich nach hinten kippen. Es ist Renards Mutter, die in den letzten Jahren allmählich den Verstand verloren hat. Ein drittes Mal wird Jules gerufen. Er kommt angerannt, wirft Hut und Stock von sich und starrt in den Brunnen hinunter: Er sieht Röcke im Wasser treiben und »den leichten Wirbel, den jeder kennt, der einmal ein Tier ertränkt hat«. Er versucht, sich mit dem Eimer hinabzulassen; als er hineintritt, bemerkt er, dass seine Stiefel lächerlich lang wirken und sich an den Spitzen aufrichten wie Fische in einem Kübel. Dann bringt jemand eine Leiter; Jules tritt aus dem Eimer und steigt die Sprossen hinunter, erreicht aber nur, dass er sich die Füße nass macht. Zwei tüchtige Männer aus dem Dorf klettern nach unten und ziehen den Leichnam heraus; er weist keinen Kratzer auf.
Renard kann nicht entscheiden, ob das ein Unfall oder ein weiterer Selbstmord war; er nennt den Tod seiner Mutter »unbegreiflich«. Er meint: »Vielleicht ist die Unbegreiflichkeit Gottes das stärkste Argument für seine Existenz.« Er befindet: »Der Tod ist kein Künstler.«
Als ich bei den Priestern in der Bretagne lebte, entdeckte ich das Werk des großen belgischen Chansonniers Jacques Brel. Sein Moralismus trug ihm anfangs den Beinamen »Abbé Brel« ein, und 1958 nahm er den Titel Dites, si c’était vrai (Wenn es nun wahr wäre?) auf. Es ist eher ein Gebet in Gedichtform als ein Lied, bebend zum Grollen einer Orgel im Hintergrund vorgetragen. Brel will, dass wir uns vorstellen, wie es wäre, »wenn es wahr wäre«. Wenn Jesus wirklich im Stall zu Bethlehem geboren wäre … Wenn wahr wäre, was die Evangelisten geschrieben haben … Wenn es den coup de théâtre bei der Hochzeit zu Kana tatsächlich gegeben hätte … oder den anderen Coup, die Geschichte mit Lazarus … Wenn das alles wahr wäre, meint Brel, dann würden wir Ja sagen, weil das alles so schön ist, wenn man glaubt, es sei wahr.
Heute halte ich das für einen der schlechtesten Titel, die Brel je
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