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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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eine Folge dessen, dass Gott seine Geschöpfe mit einem freien Willen ausgestattet hatte. Bisweilen mochte Gott sich des Tierreichs bedienen, um seinen menschlichen Geschöpfen einen Rüffel zu erteilen: zum Beispiel, indem er ihnen zur Strafe eine Heuschreckenplage sandte; folglich musste der Gerichtshof die Heuschrecken von Rechts wegen für unschuldig erklären. Doch was, wenn ein berauschter Trunkenbold in einen Straßengraben fiel, wo ihm ein Schwein das halbe Gesicht abfraß, und diese Tat nicht als gottgewollt interpretiert werden konnte? Da musste eine andere Erklärung gefunden werden. Vielleicht war das Schwein von einem Teufel besessen, dem das Gericht befehlen konnte, sich zu entfernen. Oder vielleicht war das Schwein, obwohl selbst nicht mit freiem Willen begabt, nach dem Verursacherprinzip dennoch für das Geschehen verantwortlich zu machen.
    Uns mag das wie ein weiterer Beweis für die einfallsreiche Bestialität des Menschen vorkommen. Man kann es aber auch anders sehen: als Hebung des Status der Tiere. Auch sie gehörten zur Schöpfung Gottes, waren Teil von Gottes Ratschluss und nicht nur zu des Menschen Nutz und Frommen auf die Erde geschickt. Die mittelalterlichen Behörden stellten Tiere vor Gericht und wogen ernsthaft ihre Verfehlungen ab; wir stecken Tiere in Konzentrationslager, stopfen sie mit Hormonen voll und zerstückeln sie, damit sie möglichst wenig an etwas erinnern, was einst gackerte, blökte oder muhte. Welche Welt ist die ernsthaftere? Welche die moralisch höher stehende?
    Autoaufkleber und Kühlschrankmagneten mahnen uns, das Leben sei keine Generalprobe. Wir treiben uns gegenseitig dem irdischen, modernen Himmel der Selbstverwirklichung entgegen: Entwicklung der Persönlichkeit, Beziehungen, die einen Teil unserer Identität ausmachen, statusträchtiger Beruf, materielle Güter, Vermögensbesitz, Ferien im Ausland, Ersparnisse, Ansammlung sexueller Großtaten, Besuche im Fitnessstudio, Kulturkonsum. In der Summe ergibt das doch Glück – oder etwa nicht? Das ist unser selbstgewählter Mythos, und der ist fast ebenso verblendet wie der Mythos, der Erfüllung und Verzückung postulierte, wenn die Posaune des Jüngsten Gerichts ertönte und die Gräber sich auftaten, wenn die geläuterten und vollkommenen Seelen in die Gemeinschaft der Heiligen und Engel eingingen. Betrachtet man das Leben aber tatsächlich als eine Generalprobe, als Vorbereitung, als ein Wartezimmer – egal, welche Metapher wir wählen –, auf jeden Fall aber als etwas Uneigentliches, etwas, was sich von einer größeren Realität anderswo ableitet, dann verliert es an Wert und gewinnt zugleich an Ernsthaftigkeit. Die Gegenden der Welt, wo die Religion versickert ist und die allgemeine Meinung herrscht, dass wir diese kurze Zeitspanne haben und mehr nicht, sind im Großen und Ganzen nicht ernsthafter als die, wo sich die Köpfe noch immer ruckartig drehen, wenn die Glocke in der Kathedrale oder der Ruf des Muezzins auf dem Minarett ertönt. Im Großen und Ganzen ist man dort einem hektischen Materialismus verfallen; allerdings ist das erfindungsreiche Menschenwesen durchaus imstande, Zivilisationen zu konstruieren, in denen die Religion mit einem hektischen Materialismus koexistiert (und wo Erstere sogar eine Übelkeit erregende Folge des Letzteren sein kann): siehe Amerika.
    Na und, mögen Sie sagen. Es kommt allein darauf an, was wahr ist. Ist es besser, sich vor Mumpitz zu verbeugen und sein Leben nach den Launen einer Priesterschaft zu verdrehen, und das im Namen einer vermeintlichen Ernsthaftigkeit? Oder ist es besser, zur vollen Zwergenhaftigkeit anzuwachsen und sämtlichen banalen Wünschen und Begierden nachzugeben, und das im Namen von Wahrheit und Freiheit? Oder ist das eine falsche Gegenüberstellung?
    Mein Freund J. weiß noch, welches Werk wir in dem Konzert vor einigen Monaten hörten: eine Messe von Haydn. Als ich auf unser anschließendes Gespräch zurückkomme, lächelt er hintergründig. Also frage ich meinerseits: »Wie oft hast du während des Stücks an den auferstandenen Jesus gedacht?« – »Ich denke ständig an ihn«, erwidert J. Da ich nicht weiß, ob er das völlig ernst oder völlig albern meint, stelle ich ihm eine Frage, die ich meines Wissens noch nie einem meiner erwachsenen Freunde gestellt habe: »Bist du ein religiöser Mensch – und wenn ja, in welchem Maße?« Nach dreißigjähriger Bekanntschaft sollte man das wohl mal klarstellen. Ein langes, leises Lachen: »Ich

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