Nichts, was man fürchten müsste
die diese Gegenstände zunehmend bewundert und deshalb mehr davon verlangt, als es überhaupt geben kann. Fälschung ist, wie Heuchelei, der Tribut des Lasters an die Tugend, und hier wurde viel Tribut entrichtet.
Doch was hat man oder vielmehr habe ich – ja, hier sollte ich mir wohl an die eigene Brust schlagen – da eigentlich gesehen? Und galten meine Reaktionen, wie atemlos authentisch sie auch sein mochten, tatsächlich den Gegenständen, die ich vor mir sah? (Oder werden ästhetische Gegenstände im Laufe der Zeit eins mit oder gerinnen zu den Reaktionen, die sie in uns auslösen?) Den konstanten blassen Cremeton, der solche Heiterkeit ausstrahlt, hat es wohl ursprünglich nicht gegeben, zumindest die Köpfe waren bunt bemalt. Die minimalistische – und proto moderne – Gestaltung ist wenigstens zum Teil eine praktische Folge davon, dass Marmor ausgesprochen schwer zu bearbeiten ist. Die vertikale Ausrichtung – die Art, wie diese kleinen Darstellungen uns auf Zehenspitzen entgegenkommen und uns dadurch scheinbar ruhig beherrschen – ist eine Erfindung der Kuratoren, denn meist waren sie als horizontal liegende Figuren konzipiert. Und die mahnende Ruhe, die sie ausstrahlen, ist in Wirklichkeit die Stille und Strenge des Grabs. Auch wenn wir kykladische Statuen ästhetisch betrachten – wir können gar nicht anders –, hatten sie doch die Funktion von Grabbeigaben. Wir würdigen sie, indem wir sie unter sorgfältig arrangierter Beleuchtung in Museen ausstellen; ihre Schöpfer hatten sie dadurch gewürdigt, dass sie sie in der Erde vergruben, unsichtbar für alle außer den Geistern der Toten. Und woran genau – oder auch nur ungefähr – glaubten sie, die Menschen, die diese Gegenstände erschufen? Weißnich.
Wie immer ist die Kunst natürlich nur ein Anfang, nur eine Metapher. Philip Larkin geht in eine leere Kirche und überlegt, was wohl passiert, wenn »Kirchen einmal völlig außer Gebrauch kommen«. Werden wir »ein paar Kathedralen chronisch zur Schau stellen« (dieses »chronisch« lässt den Autor dieses Buchs immer vor Neid erglühen), oder werden wir sie meiden, »weil sie Unglück bringen«? Larkin kommt zu dem Schluss, dass diese verlassenen Stätten uns weiterhin – immer – anziehen werden, weil »irgendwer ewig einen jähen Hunger nach mehr Ernst in sich verspürt«.
Liegt das diesem Gefühl des »Vermissens« zugrunde? Gott ist tot, und ohne ihn können sich die Menschen endlich von den Knien erheben und zu voller Größe aufrichten; doch diese Größe erweist sich als recht zwergenhaft. Émile Littré, der Lexikograf, Atheist und Materialist (sowie Hippokrates-Übersetzer) meinte, der Mensch sei »eine äußerst instabile Verbindung und die Erde ein entschieden zweitrangiger Planet«. Die Religion bot Trost für die Mühen des Lebens und an dessen Ende eine Belohnung für die Gläubigen. Doch über diese Annehmlichkeiten hinaus stellte sie das Leben des Menschen in einen größeren Zusammenhang und sorgte damit für Ernsthaftigkeit. Brachte die Religion die Menschen dazu, sich besser zu benehmen? Manchmal ja, manchmal nein; Gläubige und Ungläubige sind in ihrem kriminellen Verhalten seit jeher gleich erfinderisch und gemein. Doch war sie wahr? Nein. Warum vermisst man sie dann?
Weil sie eine Fiktion erster Güte war und weil es normal ist, am Ende eines großen Romans ein Gefühl des Verlusts zu verspüren. Im Mittelalter pflegte man Tieren den Prozess zu machen – Heuschrecken, die Ernten vernichteten, Totenuhrkäfern, die sich am Kirchengebälk gütlich taten, Schweinen, die sich Betrunkene im Straßengraben schmecken ließen. Manchmal wurde das Tier vor Gericht gestellt, manchmal (etwa bei Insekten) wurde der Fall notgedrungen in absentia verhandelt. Es gab ein regelrechtes Gerichtsverfahren mit Anklage, Verteidigung und einem robentragenden Richter, der die verschiedensten Strafen verhängen konnte – Bewährung, Verbannung, bis hin zur Exkommunikation. Es gab sogar gerichtlich angeordnete Hinrichtungen: Ein Schwein konnte von einem Handschuhe und Kapuze tragenden Gerichtsdiener am Hals aufgehängt werden, bis der Tod eintrat.
Das alles erscheint – uns hier und heute – überspannt und blödsinnig, ein Ausdruck des unergründlichen mittelalterlichen Denkens. Und doch war es vollkommen rational und vollkommen zivilisiert. Die Welt wurde von Gott erschaffen, und daher war alles, was darin geschah, entweder Ausdruck des göttlichen Ratschlusses oder
Weitere Kostenlose Bücher