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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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ihr eigentlicher Gehalt uns so fern ist wie eine Kindheitserinnerung? Oder ist das eine müßige Frage, da wir ja keine Wahl haben? Bei Mozarts Requiem einen Glauben vorzutäuschen, den man nicht hat, ist so, als würde man vorgeben, Shakespeares schweinische Witze lustig zu finden (auch wenn einige Theaterbesucher trotzdem gnadenlos lachen). Vor ein paar Jahren war ich in der City Art Gallery von Birmingham. In einer Ecke ist dort unter Glas ein kleines, eindringliches Bild von Petrus Christus ausgestellt, auf dem Jesus seine Wunden darbietet: Mit ausgestrecktem Daumen und Zeigefinger deutet er auf die Stelle, wo die Lanze eindrang – ja, er fordert uns geradezu auf, die Wunde auszumessen. Seine Dornenkrone hat sich zu einem goldenen, zuckerwatteartigen Glorienschein ausgewachsen. Zwei Heilige stehen ihm zur Seite, einer hält eine Lilie in der Hand, der andere ein Schwert; sie ziehen die grünen Samtfalten eines merkwürdig häuslichen Proszeniums zurück. Als ich nach der Besichtigung wegtrat, sah ich einen Vater im Jogginganzug mit seinem kleinen Sohn in flottem, kunstverachtendem Tempo auf mich zu rennen. Der Vater hatte die besseren Turnschuhe und die stärkere Kondition und daher ein, zwei Meter Vorsprung, als sie in diese Ecke einbogen. Der Junge warf einen Blick in die Vitrine und fragte mit starkem Birminghamer Akzent: »Warum fasst sich der Mann da an die Brust, Dad?« Der Vater sah sich, ohne einen Moment innezuhalten, kurz um und antwortete unverzüglich: »Weißnich.«
    Auch wenn uns die eigens für uns geschaffene nicht-religiöse Kunst noch so viel Freude bereitet und Wahrheit vermittelt, auch wenn sie uns ästhetisch noch so sehr berührt, es wäre doch schade, wenn wir auf alles, was vorher war, am Ende nur noch mit einem Weißnich reagieren könnten. Aber das ist natürlich der Lauf der Welt. In Kunstausstellungen werden Ereignisse wie die Verkündigung Mariä oder Mariä Himmelfahrt immer häufiger auf Schildern erläutert – die Identität der Geschwader symboltragender Heiliger allerdings nur selten. Hätte mich jemand nach den Namen der beiden Nebenfiguren auf dem Petrus Christus gefragt, dann hätte ich selbst ein ikonografisches Lexikon gebraucht.
    Wie soll das erst werden, wenn das Christentum einmal auf der Liste ausgestorbener Religionen steht und im Lehrplan der Universitäten in der Folklore-Abteilung angeboten wird; wenn Blasphemie weder legal noch illegal, sondern einfach unmöglich ist? Das wird ungefähr so werden. Vor Kurzem war ich in Athen und sah dort zum ersten Mal kykladische Marmorstatuen. Sie sind um 3000 bis 200 0 vor Christus entstanden, vorwiegend weiblich und lassen sich im Wesentlichen in zwei Gruppen einteilen: halb abstrakte violinartige Figuren und eher naturalistische Darstellungen eines gestreckten Körpers. Die zweite Gruppe weist folgende typische Merkmale auf: eine lange Nase auf einem schildartigen Kopf ohne weitere Gesichtszüge, einen gedehnten Nacken, vor dem Bauch gefaltete Arme, der linke stets über dem rechten, ein angedeutetes Schamdreieck, eine gemeißelte Kerbe zwischen den Beinen, auf Zehenspitzen stehende Füße.
    Es sind Darstellungen von einzigartiger Reinheit, Würde und Schönheit, die den Betrachter berühren wie ein leiser, anhaltender Ton, der durch einen stillen Konzertsaal schwingt. Man meint diese Figuren, die meist nur eine Spanne hoch sind, ästhetisch schon im ersten Moment zu begreifen; und sie scheinen damit einverstanden zu sein und den Betrachter zu bitten, alle historisch-archäologischen Erläuterungen an der Museumswand zu ignorieren. Das liegt zum Teil daran, dass sie so offensichtlich ihre modernen Nachfahren heraufbeschwören: Picasso, Modigliani, Brancusi. Heraufbeschwören und zugleich übertreffen: Es tut gut zu sehen, wie ein paar namenlose kykladische Bildhauer diese bewundernswerten Despoten der Moderne gar nicht so originell erscheinen lassen; und es tut gut, daran erinnert zu werden, dass die Geschichte der Kunst nicht nur linear, sondern auch kreisförmig verläuft. Wenn dieser kurze Moment quasi boxerischer Selbstbewunderung vorüber ist, kann man sich der Ruhe und symbolischen Zurückhaltung dieser Figuren öffnen und hingeben. Jetzt fallen einem andere Vergleiche ein: Piero oder Vermeer. Man sieht sich einer erhabenen Schlichtheit und einer übernatürlichen Ruhe gegenüber, die alles Abgründige der Ägäis in sich zu schließen und unserer hektischen modernen Welt einen Tadel zu erteilen scheint. Einer Welt,

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