Nichts, was man fürchten müsste
besser gefiele (ein ewiges Quasileben in Gesellschaft von Heiligen ganz bestimmt nicht – was könnte weniger verlockend sein?).«
Wie rasch unsere Ansichten auseinandergehen, dabei sind wir vom selben Fleisch, sind Produkte derselben Schule und Universität. Und wenngleich mein Bruder das Thema philosophisch und damit gelassen angeht, wenngleich er sich seine eigene endgültige Auslöschung durch den Vergleich mit einer Hainbuche auf Distanz hält, glaube ich nicht, dass dieser Unterschied seinem Leben in und mit der Philosophie geschuldet ist. Ich vermute, er und ich sind in diesen Dingen, wie wir sind, weil wir von Anfang an so waren. Vom Gefühl her ist das natürlich anders. Man kommt auf die Welt, schaut sich um, zieht gewisse Schlüsse, befreit sich von dem alten Blödsinn, lernt, denkt, beobachtet, bildet sich eine Meinung. Man glaubt an die eigene Kraft und Autonomie; man wird sein eigenes Geschöpf. So ist meine Todesangst im Laufe der Jahrzehnte zu einem wesentlichen Teil meiner selbst geworden, was ich dem Einsatz der Fantasie zuschreiben möchte; während die Gelassenheit meines Bruders im Angesicht des Todes ein wesentlicher Teil seiner selbst ist, was er womöglich dem Einsatz logischen Denkens zuschreibt. Aber vielleicht liegt das bei mir auch nur an unserem Vater, bei ihm an unserer Mutter. Vielen Dank auch für dieses Gen, Dad.
»Ich kann mir eigentlich nichts vorstellen, das mir besser gefiele [als die Vernichtung]«, sagt mein Bruder. Nun, ich kann mir alles Mögliche vorstellen, das mir besser gefiele als die völlige Auslöschung innerhalb von fünfzehn (nach seiner Rechnung) oder dreißig Jahren (mein brüderliches Geschenk). Wie wär’s denn, wenn wir zunächst mal länger lebten als diese Hainbuche? Wie wär’s mit der Option, zu sterben, wenn uns danach ist, wenn wir genug haben: noch zweihundert, dreihundert Jahre so weitermachen, und dann selbst euthanastisch »Na los, bring es hinter dich« sagen dürfen, zu einem Zeitpunkt eigener Wahl? Warum soll man sich nicht ein ewiges Quasileben vorstellen, in dem man sich mit den großen Philosophen oder den großen Romanciers unterhält? Oder eine Version der Reinkarnation – eine Mischung aus Buddhismus und Und täglich grüßt das Mur meltier –, in der man das eigene Leben noch einmal leben darf, wissend, wie es das erste Mal gelaufen ist, aber doch in der Lage, kleine Korrekturen an dieser Generalprobe vorzunehmen? Das Recht, es noch einmal zu versuchen und anders zu machen. Das nächste Mal könnte ich mich wehren, wenn mein Bruder sein philatelistisches Erstgeburtsrecht geltend macht, und etwas anderes sammeln als den Rest der Welt. Ich könnte jüdisch werden (oder es versuchen oder so tun als ob). Ich könnte früher zu Hause ausziehen, im Ausland leben, Kinder haben, keine Bücher schreiben, Hainbuchen pflanzen, einer Gemeinschaft von Utopisten beitreten, mit allen möglichen verkehrten Leuten schlafen (oder wenigstens mit ein paar anderen verkehrten Leuten), drogensüchtig werden, Gott finden, nichts tun. Ich könnte ganz neue Arten der Enttäuschung entdecken.
Meine Mutter hat mir erzählt, Grandpa habe ihr einmal erzählt, das schlimmste Gefühl des Lebens sei die Reue. Worauf sich das wohl bezogen habe, fragte ich. Sie sagte, sie habe keine Ahnung, da ihr Vater ein ausgesprochen redlicher Mensch gewesen sei (kein undichter Puff weit und breit). Und so hängt diese – für meinen Großvater so untypische – Bemerkung unbeantwortbar in der Zeit. Ich habe nicht sehr unter Reue zu leiden, obwohl das noch kommen mag, und begnüge mich einstweilen mit deren engen Freunden: Bedauern, Schuldgefühlen, der Erinnerung an Versagen. Dafür habe ich aber eine zunehmende Neugier auf die ungelebten, die nunmehr unlebbaren Leben, und vielleicht verbirgt sich die Reue zurzeit noch in deren Schatten.
Arthur Koestler hat, bevor er Selbstmord beging, einen Brief hinterlassen, in dem er eine »zaghafte Hoffnung auf ein entpersönlichtes Weiterleben« ausdrückt. Dieser Wunsch kann nicht überraschen – Koestler hatte sich in seinen letzten Jahren viel mit Parapsychologie beschäftigt –, hat für mich aber keinerlei Reiz. Es spricht auch nur wenig für eine Religion, die nichts als ein allwöchentliches gesellschaftliches Ereignis ist (außer den üblichen Freuden eines allwöchentlichen gesellschaftlichen Ereignisses natürlich) im Gegensatz zu einer Religion, die einem genau sagt, wie man leben soll, die allem ihre Farbe verleiht
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