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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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bin antireligiös.« Dann korrigiert er sich: »Nein, ich bin sehr antireligiös.«

    Montaigne meinte, das stärkste Fundament der Religion sei die Verachtung des Lebens. Eine geringe Meinung von dieser Welt, auf der wir nur vorübergehend zu Gast sind, war für einen Christen logisch, ja zwingend notwendig: Eine allzu große Bindung an diese Welt – geschweige denn ein Verlangen nach irgendeiner irdischen Unsterblichkeit – wäre eine Unverschämtheit gegenüber Gott gewesen. Sir Thomas Browne, der in Großbritannien am ehesten mit Montaigne zu vergleichen ist, schrieb: »Für einen Heiden mag es Gründe geben, das Leben zu lieben, doch wenn ein Christ vom Tode bestürzt ist [d. h. ihn fürchtet], dann weiß ich nicht, wie er diesem Dilemma entgehen kann – dass er zu viel für dieses Leben empfindet oder zu wenig Hoffnung auf das künftige setzt.« Daher zollt Browne allen Respekt, die den Tod verachten: »Auch kann ich niemanden recht lieben, der ihn fürchtet: darum liebe ich natürlich die Soldaten und achte die zerlumpten Regimenter, die auf Befehl eines Sergeanten sterben werden.«
    Browne schreibt auch, es sei ein Symptom der Melancholie, den Tod zu fürchten und ihn dennoch bisweilen zu ersehnen. Dazu wieder Larkin, ein Melancholiker mit einer perfekten Definition der Todesangst: »Nicht hier mehr sein / nicht irgendwo sein / das bald; nichts schrecklicher, nichts wahrer.« Und an anderer Stelle, wie um Browne zu bestätigen: »Und unter allem wogt die Sehnsucht nach Vergessenheit.« Diese Zeile hat mich beim ersten Lesen verblüfft. Sicher bin ich selbst melancholisch und sehe das Leben manchmal als überschätzten Zeitvertreib an; doch ich habe mir nie gewünscht, nicht mehr ich selbst zu sein, mich nie nach Vergessenheit gesehnt. Ich bin nicht so von der Nichtigkeit des Lebens überzeugt, dass die Aussicht auf einen neuen Roman oder einen neuen Freund (oder einen alten Roman oder alten Freund) oder auf ein Fußballspiel im Fernsehen (oder auch nur die Wiederholung eines alten Spiels) mein Interesse nicht wieder neu entfachen kann. Ich bin wie Brownes unzulänglicher Christ – der »zu viel für dieses Leben empfindet oder zu wenig Hoffnung auf das künftige setzt« –, nur dass ich kein Christ bin.

    Vielleicht verläuft die wesentliche Trennung weniger zwischen religiösen und unreligiösen Menschen als vielmehr zwischen solchen, die den Tod fürchten, und solchen, die das nicht tun. Das ergibt insgesamt vier Kategorien, und es ist offensichtlich, welche beiden sich als überlegen betrachten: die den Tod nicht fürchten, weil sie gläubig sind, und die den Tod nicht fürchten, obwohl sie nicht gläubig sind. Das sind die moralisch höherstehenden Gruppen. Auf den dritten Platz kommen diejenigen, die zwar gläubig sind, aber die alte, intuitive, rationale Angst dennoch nicht loswerden. Und dann, weit abgeschlagen, kommen die trüben Tassen, die es knüppeldick erwischt hat – diejenigen unter uns, die den Tod fürchten und nicht gläubig sind.
    Ich bin sicher, dass mein Vater den Tod fürchtete, und ziemlich sicher, dass meine Mutter ihn nicht fürchtete: Behinderung und Abhängigkeit schreckten sie mehr. Und wenn mein Vater ein todesfürchtiger Agnostiker war und meine Mutter eine furchtlose Atheistin, dann hat sich dieser Unterschied in ihren beiden Söhnen reproduziert. Mein Bruder und ich sind jetzt beide über sechzig, und ich habe ihn eben erst – ein paar Seiten zuvor – gefragt, wie er zum Tod steht. Als er antwortete: »Ich bin mit der Lage der Dinge ganz zufrieden«, meinte er da, er sei ganz zufrieden mit seiner eigenen Auslöschung? Und hat seine Beschäftigung mit der Philosophie ihn mit der Kürze des Lebens und dessen unausweichlichem Ende für ihn innerhalb der, sagen wir, nächsten dreißig Jahre versöhnt?
    »Dreißig Jahre ist ziemlich großzügig bemessen«, erwidert er (nun ja, ich hatte ein bisschen was draufgelegt, um es ihm wie auch mir leichter zu machen). »Ich rechne damit, dass ich innerhalb der nächsten fünfzehn tot bin. Habe ich mich damit versöhnt? Habe ich mich damit versöhnt, dass die prachtvolle Hainbuche, die ich vor meinem Fenster sehe, innerhalb der nächsten fünfzig Jahre fallen und verrotten wird? Ich bin mir nicht sicher, ob Versöhnung das mot juste ist: Ich weiß, es wird geschehen, und ich kann nichts dagegen tun. Es gefällt mir nicht gerade, aber es macht mir auch keine Sorgen – und ich kann mir eigentlich nichts vorstellen, das mir

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