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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Cimetière des Innocents gemalt, begann mit den Worten: »O créature roysonnable / Qui desires vie eternelle« [O du vernünftiges Wesen / Das ewiges Leben ersehnt]. Rationale Angst: Mein Freund, der Schriftsteller Brian Moore, zitierte gern die alte jesuitische Definition des Menschen als »un être sans raisonnable raison d’être«: Ein vernunftbegabtes Wesen ohne vernünftigen Daseinsgrund.
    Hat das Todesbewusstsein etwas mit meinem Beruf als Schriftsteller zu tun? Mag sein. Aber wenn, dann will ich es gar nicht wissen und dem auch nicht weiter nachgehen. Ich erinnere mich an den Fall eines Komikers, der nach jahrelanger Psychotherapie endlich verstand, warum er komisch sein musste; und als er es verstanden hatte, war er nicht mehr komisch. Dieses Risiko möchte ich nicht eingehen. Ich kann mir aber so eine Was-wäre-dir-lieber-Frage vorstellen. »Mister Barnes, wir haben Ihren Zustand untersucht und sind zu dem Schluss gekommen, dass Ihre Todesangst sehr eng mit Ihren literarischen Gepflogenheiten verknüpft ist, die wie bei vielen Ihres Berufsstands nichts als eine banale Reaktion auf die Sterblichkeit sind. Sie denken sich Geschichten aus, damit Ihr Name, und somit ein nicht näher zu bestimmender Prozentsatz Ihrer Persönlichkeit, nach Ihrem leiblichen Tod fortbestehen wird, und das Vorgefühl dessen bringt Ihnen einen gewissen Trost. Und wenngleich Sie vom Verstand her begriffen haben, dass Sie durchaus schon vor Ihrem Tod – oder auch kurz danach – in Vergessenheit geraten können und dass letzten Endes alle Schriftsteller in Vergessenheit geraten und die gesamte Menschheit auch, erscheint es Ihnen dennoch der Mühe wert. Ob das Schreiben für Sie eine intuitive Reaktion auf das Rationale ist oder eine rationale Reaktion auf das Intuitive, vermögen wir nicht mit Gewissheit zu sagen. Doch wir haben einen Vorschlag, den Sie in Erwägung ziehen sollten. Wir haben eine neuartige Gehirnoperation zur Entfernung der Todesangst erfunden. Es ist ein unkompliziertes Verfahren, das keine Vollnarkose erfordert – ja, Sie können es mit eigenen Augen auf dem Bildschirm verfolgen. Schauen Sie einfach auf diese leuchtend orange Stelle und beobachten Sie, wie die Farbe allmählich verblasst. Sie werden natürlich feststellen, dass die Operation Ihnen auch das Bedürfnis zu schreiben nimmt, aber viele Ihrer Kollegen haben sich für diese Behandlung entschieden und festgestellt, dass sie ihnen ausgesprochen gutgetan hat. Auch aus der Gesellschaft im Allgemeinen hört man keine Klagen darüber, dass es nicht mehr so viele Schriftsteller gibt.«
    Das müsste ich mir natürlich überlegen. Ich könnte darüber nachdenken, was dann aus meiner Backlist wird, und ob meine nächste Idee wirklich so gut ist, wie ich mir einbilde. Aber ich hoffe, ich würde ablehnen – oder wenigstens in Verhandlungen eintreten, damit sie noch etwas drauflegen. »Wie wär’s, wenn Sie nicht die Todesangst, sondern den Tod selbst entfernen? Das wäre wirklich verlockend. Sie beseitigen den Tod, und ich gebe das Schreiben auf. Vielleicht kommen wir so ins Geschäft?«

    Mein Bruder und ich haben auch ein gemeinsames Erbe. Aus unseren vier Ohren sprießen insgesamt drei Hörgeräte. Bei mir sitzt die Taubheit auf der linken Seite. Jules Renard, Tagebücher, 25 . Juli 1892 : »Er ist auf dem linken Ohr taub: Auf der Seite des Herzens hört er nichts.«
    (Frechheit!) Als der HNO  – Spezialist seine Diagnose stellte, fragte ich, ob ich womöglich irgendwie zu diesem Zustand beigetragen hätte. »Die Ménière-Krankheit kann man sich nicht zuziehen«, antwortete er. »Das ist ein erbliches Leiden.« – »Ein Glück«, sagte ich. »Dann kann ich meinen Eltern die Schuld geben.« Das lasse ich aber schön bleiben. Sie taten nur ihre genetische Pflicht und gaben weiter, was sie von anderen bekommen hatten, den ganzen alten Plunder aus Urschleim-, Sumpf- und Höhlenzeiten, den ganzen Evolutionsplunder – ohne den mein nörgelndes Ich gar nicht entstanden wäre.
    Wenige Zentimeter von diesen erblich gestörten Ohren entfernt sitzt in meinem Schädel die Angst vor dem Tod und in dem meines Bruders das Fehlen derselben. Und wo könnte in diesem Umkreis die Religion oder das Fehlen derselben angesiedelt sein? Im Jahre 1987 behauptete ein amerikanischer Neurowissenschaftler, er habe die genaue Stelle lokalisiert, an der eine gewisse elektrische Instabilität im Gehirn religiöse Gefühle auslöst: den sogenannten God-Spot – eine andere, noch

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