Nichts, was man fürchten müsste
und ihren Stempel aufdrückt, die ernsthaft ist. Und so würde ich mir auch wünschen, dass mein Leben nach dem Tode, wenn denn ein solches im Angebot ist, eine – wenn möglich wesentliche – Verbesserung gegenüber seinem irdischen Vorläufer darstellte. Dass ich halb benebelt in einem klebrigen, neu gemischten Molekülbrei herumpatsche, kann ich mir gerade noch vorstellen, aber einen Vorteil gegenüber der vollständigen Auslöschung kann ich darin nicht erkennen. Wieso sollte man auf so einen Zustand Hoffnungen setzen, und seien es zaghafte? Ach, mein Junge, es geht aber nicht darum, was dir lieber ist, es geht darum, was sich als wahr erweist. Die wesentliche Debatte über dieses Thema fand zwischen Isaac Bashevis Singer und Edmund Wilson statt. Singer erklärte Wilson, er glaube an ein Weiterleben nach dem Tode in irgendeiner Form. Wilson sagte, er persönlich wolle überhaupt nicht weiterleben, vielen Dank auch. Singer erwiderte: »Wenn ein Weiterleben arrangiert wurde, dann bleibt dir gar nichts anderes übrig.«
Der Furor eines wiederauferstandenen Atheisten – der wäre wahrlich sehenswert. Und wo wir gerade dabei sind, ich glaube, die Gesellschaft von Heiligen könnte ausgesprochen interessant sein. Viele von ihnen haben ein aufregendes Leben geführt – in dem sie mit knapper Not Mordanschlägen entgingen, sich Tyrannen widersetzten, an mittelalterlichen Straßenecken predigten, gefoltert wurden –, und selbst die Stilleren unter ihnen hätten einiges über Bienenzucht, Lavendelanbau, umbrische Ornithologie und so weiter zu erzählen. Schließlich war auch Dom Pérignon ein Mönch. Man mag sich eine buntere gesellschaftliche Mischung erhofft haben, doch wenn das so »arrangiert wurde«, halten die Heiligen einen womöglich länger als erwartet bei der Stange.
Mein Bruder hat keine Angst vor der Auslöschung. »Ich sage das mit Gewissheit und nicht nur, weil diese Angst irrational wäre« (Entschuldigung – kurze Unterbrechung – irrational? IRRATIONAL ? Sie ist das Rationalste der Welt – wie könnte es unvernünftig sein, wenn die Vernunft ihr eigenes Ende fürchtet und verabscheut?). »Drei Mal in meinem Leben war ich überzeugt, ich läge im Sterben (das letzte Mal kam ich in einem Reanimationsraum zu mir); jedes Mal gab es eine emotionale Reaktion (einmal rasende Wut auf mich selbst, weil ich mich in diese Lage gebracht hatte, einmal eine Mischung aus Scham und Verdruss bei dem Gedanken, dass ich meine Angelegenheiten in völ liger Unordnung hinterlassen hatte), aber nie Angst.« Er konnte sogar für das letzte Wort auf dem Totenbett proben. »Als ich das letzte Mal beinahe gestorben wäre, waren meine beinahe letzten Worte: ›Sorg dafür, dass Ben meine Aristoteles-Gesamtausgabe von Bekker bekommt‹.« Er fügt hinzu, seine Frau habe das »etwas lieblos« gefunden.
Mein Bruder räumt ein, dass er inzwischen häufiger an den Tod denkt als früher, »zum Teil deshalb, weil alte Freunde und Kollegen wegsterben«. Er beschäftigt sich einmal pro Woche ganz ruhig mit dem Tod, während ich auch nach jahrelanger Schinderei, nach Mühsal und Plage keine abgeklärte Ruhe und philosophische Gelassenheit erlangt habe. Ich könnte versuchen, ein paar Argumente zugunsten des Todesbewusstseins zusammenzukratzen, aber sie würden wohl nicht überzeugen. Ich kann eigentlich nicht behaupten, ich könne besser mit dem Tod umgehen, geschweige denn, dass ich weiser, ernsthafter oder … sonst was geworden wäre, weil ich mich dem Tod stelle (nein, das klingt zu aktiv, zu sehr nach aufgesetztem Heroismus – richtiger müsste es heißen: weil der Tod mich nicht loslässt). Ich könnte versuchen geltend zu machen, dass wir das Leben nicht wahrhaft genießen können, ohne uns ständig unserer Vernichtung bewusst zu sein: Das ist der Spritzer Zitrone, die Prise Salz, die das Aroma intensiver machen. Aber glaube ich wirklich, dass meine den Tod leugnenden (oder religiösen) Freunde einen bestimmten Blumenstrauß / ein Kunstwerk / ein Glas Wein weniger zu schätzen wissen als ich? Nein.
Andererseits ist das keine reine Gefühlssache. Die Symptome vielleicht – vom die Haut zerreißenden Stechen bis zum blanken Entsetzen, vom brutalen Weckerschrillen im fremden Hotelzimmer bis zu gellenden Fanfarenstößen über der ganzen Stadt. Aber ich wiederhole und bestehe darauf, dass ich an einer rationalen (ja, RATIONALEN ) Angst leide. Der Text zum ältesten bekannten Totentanz, 1425 auf eine Wand am Pariser
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