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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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potentere Form von G-Spot. Dieser Forscher hat vor Kurzem auch einen »Gotteshelm« erfunden, der die Schläfenlappen mit einem schwachen Magnetfeld stimuliert und angeblich religiöse Zustände herbeiführt. Er war so kühn – oder tollkühn –, den Helm an dem Menschen auszuprobieren, der vielleicht am immunsten gegen derlei Einflüsse auf diesem Planeten ist – an Richard Dawkins, der auch prompt nicht das leiseste Flackern des Allgegenwärtigen vermeldete.
    Andere Forscher glauben, ein einzelner God-Spot ließe sich nicht lokalisieren. In einem Experiment sollten sich fünfzehn Karmeliterinnen an ihr tiefstes mystisches Erlebnis erinnern; dabei zeigte sich ein Anstieg der elektrischen Spannung sowie des Sauerstoffgehalts im Blut in mindes tens zwölf verschiedenen Gehirnregionen. Dennoch ist Gott durch die Neuromechanismen des Glaubens weder zu finden noch seine Existenz zu beweisen (oder zu widerlegen), und auch der tiefere Grund für den Götterglauben unserer Spezies lässt sich so nicht feststellen. Vielleicht wird das möglich, wenn die Evolutionspsychologie die immer neue Nützlichkeit der Religion für den Einzelnen und die Gruppe aufzeigt. Aber ob Gott, der Aalglatte, selbst damit zu fassen ist? Man sollte sich nicht darauf verlassen. Bestimmt tritt er, wie immer in den letzten hundertfünfzi g Jahren oder so, wieder einen taktischen Rückzug in den nächsten Teil des Universums an, der von keinem Scanner zu erreichen ist. »Vielleicht ist die Unbegreiflichkeit Gottes das stärkste Argument für seine Existenz.«
    Unterschiede zwischen Brüdern: Als ich in dem Alter war, in dem die pubertäre Verlegenheit in voller Blüte stand, fragte ein Freund meiner Eltern Dad in meinem Beisein, welcher seiner Söhne der klügere sei. Das Auge meines Vaters – sein sanftes, liberales Auge – ruhte auf mir, als er vorsichtig antwortete: »Wahrscheinlich Jonathan. Julian ist eher ein Allroundman, meinst du nicht auch, Ju?« Ich sah mich genötigt, diesem Urteil beizupflichten (mit dem ich wahrscheinlich sowieso übereinstimmte). Aber auch der Euphemismus entging mir nicht. Rest der Welt, niedere Stimme, Allroundman: bah.
    Die Unterschiede, die meine Mutter an ihren beiden Söhnen feststellte, gefielen mir besser. »Als sie noch Kinder waren, ist Julian, wenn ich mal krank war, zu mir ins Bett gekrabbelt und hat sich an mich gekuschelt, während sein Bruder mir eine Tasse Tee brachte.« Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal, von dem sie zu berichten wusste: Mein Bruder machte sich einmal in die Hose und kommentierte das mit den Worten: »Es wird nie wieder vorkommen« – und es kam auch nie wieder vor; während ich, als ich meine kindlichen Darmbewegungen nicht unter Kontrolle hatte, dabei entdeckt wurde, wie ich fröhlich meine Kacke in die Ritzen zwischen den Dielen schmierte. Die mir liebste Differenzierung wurde jedoch erst viel später im Leben meiner Mutter vorgenommen, als ihre beiden Söhne schon fest in ihrem jeweiligen Bereich etabliert waren. Und so drückte sie ihren Stolz auf sie aus: »Einer meiner Söhne schreibt Bücher, die ich lesen, aber nicht verstehen kann, und der andere schreibt Bücher, die ich verstehen, aber nicht lesen kann.«
    Wenn ich früher über unsere divergierende Wesensart nachsann, führte ich sie oft auf eine puerperale Besonderheit zurück. Nach der Geburt meines Bruders war meine Mutter an einer Streptokokken-Infektion erkrankt. Da sie ihn nicht stillen konnte, gab sie ihm die Flasche mit irgendeiner Babynahrung, die im England des Kriegsjahres 1942 aufzutreiben war. Ich wusste, dass meine Geburt 194 6 ohne medizinische Komplikationen verlaufen und ich demzufolge wohl gestillt worden war. An diesen bedeutsamen Umstand dachte ich in Momenten geschwisterlicher Rivalität zurück – er war das kluge Kind, ganz eiskalter Intellekt und praktische Tat, der Kot einhaltende Teebringer; ich war der Allroundman, der Kuschler, der Kotverschmierer, der Gefühlsmensch. Er hatte den Grips und verfügte über das Britische Empire; ich verfügte über den Rest der Welt in seiner reichhaltigen Vielfalt. Das war natürlich eine jämmerliche, reduktionistische Betrachtungsweise, und wenn Kritiker und Kommentatoren einen derartigen Reduktionismus auf die Kunst anwandten (sodass El Greco auf einen medizinischen Fall von Astigmatismus simplifiziert, Schumanns Musik als die Notation beginnenden Wahnsinns hingestellt wurde), machte mich das ungeheuer wütend. Doch damals, als ich diese

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