Nichts, was man fürchten müsste
Will man in derart groteskes Denken, in den jämmerlichen Trugschluss eines Gourmets zurückfallen? Wo bleibt da das Gespür für die Wahrheit?
Es hält sich tapfer, hoffe ich. Auch wenn man – nur so interessehalber – gern wüsste, ob das Staunen eines Atheisten über das Universum quantifizierbar und ebenso groß ist wie das eines Gläubigen. Es gibt keinen Grund, warum so etwas nicht messbar sein sollte (wenn nicht jetzt, dann in naher Zukunft). Wir können vergleichen, wie viele Synapsen beim männlichen und weiblichen Orgasmus in Erregung versetzt werden – eine ganz schlechte Nachricht für alle Wettbewerbsfanatiker –, also könnten wir da doch einen ähnlichen Test versuchen? Man suche sich einen Einsiedlermönch, der immer noch glaubt, die Passionsblume illustriere das Leiden Christi: das Blatt symbolisiere die Lanze, die fünf Staubbeutel die fünf Wundmale, die Ranken stünden für die Geißeln, der Fruchtknoten für den Sockel des Kreuzes, die Staubblätter für die Hämmer, die drei Griffel für die drei Kreuzigungsnägel, der fleischige Fadenkranz im Innern der Blüte für die Dornenkrone, der Kelch für den Heiligenschein, die weiße Farbe für Reinheit und die blaue für den Himmel. Dieser Mönch würde auch glauben, dass die Blume sich exakt drei Tage öffnet, einen Tag für jedes Jahr des Wirkens Christi auf Erden. Man sollte ihn neben einem Fernseh-Botaniker verdrahten, und dann schauen wir mal, bei wem mehr Synapsen erregt werden. Danach schleppen wir die Geräte in einen Konzertsaal und testen meinen »sehr antireligiösen« Freund J. im Vergleich zu einem Gläubigen, für den diese Haydn-Messe der reine Ausdruck ewiger Wahrheit ist und außerdem – vielleicht – noch ein großes Musikstück. Dann können wir sehen und messen, was passiert, wenn man die Religion aus der religiösen Kunst herausnimmt und Gott aus dem Universum.
Den kühlen Denkern, die ob der Schönheit wissenschaftlicher Gesetze umso mehr erbeben, weil sie gerade nicht eigenhändig von Gott geschaffen wurden, mag das ziemlich abwegig vorkommen. Aber wenn das wie Nostalgie aussieht, dann ist es Nostalgie nach etwas, was ich nie gekannt habe – und diese Art der Nostalgie richtet, zugegebenermaßen, den größeren Schaden an. Vielleicht gehört zu meinem Zustand auch Neid auf die, die den Glauben verloren – oder die Wahrheit gefunden – haben, als es noch neu, jung, kühn und gefährlich war, den Glauben zu verlieren. François Renard, der Selbstmörder und Kirchenfeind, war der erste Mensch, der auf dem Friedhof von Chitry ohne priesterlichen Beistand und Trost bestattet wurde. Man stelle sich vor, was das 1897 in einer abgelegenen ländlichen Gegend von Burgund für ein Schock ge wesen sein muss; man stelle sich den Stolz des Unglaubens vor. Vielleicht leide ich an – nun, sagen wir an historischer Reue, dann kann mein Großvater mit mir mitfühlen.
Ein »glücklicher Atheist«. Das Datum, das ich dem College-Geistlichen wie dem Kapitän der Rudermannschaft als den Schlüsselmoment hätte nennen können, an dem ästhetische Verzückung an die Stelle religiöser Ehrfurcht trat, ist der Januar 1811 , der Ort Florenz. Es war wenige Tage vor Stendhals achtundzwanzigstem Geburtstag – vielmehr dem achtundzwanzigsten Geburtstag von Henri Beyle, der sich noch nicht in seinen nom de plume verwandelt hatte. Beyle/Stendhal glaubte nicht an Gott und gab logischerweise vor, nichts von seiner Existenz zu wissen: »Ich warte darauf, dass Gott sich zeigt, und glaube derweil, dass sein Premierminister namens Zufall diese traurige Welt ebenso gut regiert.« Und weiter: »Ich halte mich für einen ehrlichen Menschen und könnte auch gar nichts anderes sein, nicht um ein höheres Wesen zu erfreuen, das es nicht gibt, sondern um meiner selbst willen, da ich im Frieden mit meinen Gewohnheiten und Vorurteilen leben, meinem Dasein einen Sinn und meinen Gedanken Nahrung geben muss.«
1811 war Beyle ein verarmter Verfasser plagiatorischer Komponistenbiografien und hatte eine Geschichte der italienischen Malerei begonnen, die er nie vollenden sollte. Als Siebzehnjähriger war er mit dem Tross der napoleonischen Armee zum ersten Mal nach Italien gekommen. Als sie Ivrea erreichten, machte Beyle sich sofort auf die Suche nach dem Opernhaus der Stadt. Er fand ein drittklassiges Theater mit einer heruntergekommenen Truppe, die Domenico Cimarosas Il Matrimonio segreto gab, doch für ihn war es eine Offenbarung: »un bonheur divin«,
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