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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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wie er seiner Schwester berichtete. Damit begann seine große, bebende Bewunderung für Italien, die für jedes Detail empfänglich war: Als er einmal nach jahrelanger Abwesenheit nach Mailand zurückkehrte, vermerkte er, der »ganz eigentümliche Geruch nach Pferdedung auf den Straßen« habe ihn zu Tränen gerührt.
    Und nun ist er zum ersten Mal in Florenz. Er kommt aus Bologna; die Kutsche überquert den Apennin und fährt dann ins Tal hinunter der Stadt entgegen. »Mein Herz machte wilde Sprünge. Eine geradezu kindliche Aufregung!« Nach einer Kurve kommt die Kathedrale mit Brunelleschis berühmter Kuppel in Sicht. Am Stadttor lässt er die Kutsche – und sein Gepäck – stehen und zieht wie ein Pilger zu Fuß in Florenz ein. Er findet sich vor der Kirche Santa Croce wieder. Hier liegen die Gräber von Michelangelo und Galileo, ganz in der Nähe steht Canovas Büste von Vittorio Alfieri. Er denkt an die anderen großen Männer der Toskana: Dante, Boccaccio, Petrarca. »Ich wurde von Gefühlen über flutet, die so tief gingen, dass sie von religiöser Ehrfurcht kaum zu unterscheiden waren.« Er bittet einen Mönch, ihm die Niccolini-Kapelle aufzuschließen, damit er sich die Fresken ansehen kann. Er setzt sich auf die Kniebank eines Betstuhls, »den Kopf an das Pult gelehnt, damit ich den Blick an der Decke verweilen lassen konnte«. Die Stadt und die Nähe ihrer berühmten Söhne haben Beyle schon fast in Trance versetzt. Nun ist er ganz in »die Betrachtung erhabener Schönheit versunken«; seine Begeisterung erreicht einen Punkt, wo sich »die himm lischen Empfindungen, wie die Kunst sie bietet, mit der leidenschaftlichen Sinnlichkeit des Gefühls vereinen«. Die Hervorhebungen stammen von ihm.
    Die körperliche Folge all dessen ist ein Ohnmachtsanfall. »Als ich aus dem Portal von Santa Croce trat, wurde ich von heftigem Herzklopfen befallen … Mein Lebensquell war versiegt, und ich fürchtete hinzustürzen.« Beyle (der bei Erscheinen dieses Berichts in Rom, Neapel und Florenz bereits Stendhal war) konnte seine Symptome beschreiben, den Zustand jedoch nicht benennen. Die Nachwelt aber kann es, denn die Nachwelt weiß es immer besser. Beyle litt, wie wir ihm nun erklären können, am Stendhal-Syndrom, einer Krankheit, die eine florentinische Psychiaterin 1979 mit diesem Namen bezeichnete, nachdem sie fast hundert Fälle von Schwindel und Übelkeit durch die Begegnung mit den Kunstschätzen der Stadt registriert hatte. Vor Kurzem wurden im Firenze Spettacolo zum allgemeinen Nutzen die wichtigsten Sehenswürdigkeiten aufgelistet, die man meiden sollte, falls man für dieses Syndrom anfällig ist – oder im Gegenteil besichtigen sollte, falls man ästhetisch die harte Tour fahren will. Ganz oben auf der Liste stehen die »Niccolini-Kapelle von Santa Croce mit den Fresken von Giotto«, die Accademia mit Michelangelos David und die Uffizien mit Botticellis Primavera.
    Skeptische Geister mögen sich fragen, ob diese etwa hundert schwindligen Besucher des zwanzigsten Jahrhunderts tatsächlich an einer heftigen ästhetischen Reaktion litten oder einfach nur an den Unbilden des modernen Touristendaseins: Städte-Konfusion, Zeitplan-Stress, Meisterwerk-Beklemmung, Informations-Überflutung und zu viel Sonnenhitze in Kombination mit Kälte aus der Klimaanlage. Noch skeptischere Geister mögen sich fragen, ob Stendhal selbst wirklich am Stendhal-Syndrom litt. Was er beschreibt, könnte auch die geballte Wirkung einer Reihe starker Eindrücke sein: die Berge, die Kuppel, die Ankunft, die Kirche, die großen Toten, die gewaltigen Kunstwerke – und als Folge davon dann die Ohnmacht. Auch eine medizinische statt einer psychiatrischen Betrachtungsweise kann nützlich sein: Wenn man lange mit zurückgelehntem Kopf dasitzt und auf eine bemalte Wand starrt, dann aufsteht und aus der kühlen Dunkelheit einer Kirche in den hellen, staubigen, hektischen Wirbel einer Stadt hinausgeht – ist da nicht abzusehen, dass einem ein wenig flau wird?
    Die Geschichte hält sich dennoch. Beyle/Stendhal ist der Vorläufer des modernen Kunstliebhabers und zugleich seine Rechtfertigung. Er kam nach Florenz und fiel angesichts großer Kunst in Ohnmacht. Er saß in einer Kirche, aber er war kein religiöser Mensch, und seine Verzückung war rein säkular und ästhetisch. Und wer würde nicht mit Verständnis und Neid reagieren, wenn ein Mann vor den Giottos in Santa Croce ohnmächtig wird, zumal ihm zuvor keine Reproduktionen die Sinne

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