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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Vorort hatten wir ein schwarzweißes Bakelit-Radio, dessen Knöpfe mein Bruder und ich nicht anrühren durften. Es war Dads Sache, das Gerät anzuschalten, einzustellen und dafür zu sorgen, dass es rechtzeitig warm wurde. Dann machte er sich an seiner Pfeife zu schaffen, stocherte und stopfte darin herum und löste schließlich das kratzige Flackern eines Swan-Vesta-Streichholzes aus. Mum holte ihr Strickzeug oder ihre Näharbeit hervor und schaute vielleicht noch in die Radio Times, die in einer Schutzhülle aus geprägtem Leder steckte. Dann verströmte das Radio die in der Any-Questions?  – Runde versammelten Meinungen: wortgewandte Parlamentarier, weltlich gesinnte Bischöfe, professionelle Weise wie A. J. Ayer und laienhafte, selbst ernannte Klugredner. Mum verteilte durch Zwischenrufe gute – »Sehr vernünftige Ansichten« – und schlechte Noten – von »Dämlicher Idiot!« bis hin zu »Den sollte man erschießen«. An anderen Tagen spuckte das Radio The Critics aus, eine Runde von sanften Ästhetik-Experten; sie ließen sich über Theaterstücke aus, die wir nie sehen würden, und über Bücher, die bei uns nie ins Haus kamen. Mein Bruder und ich lauschten mit einer Art verblüffter Langeweile, die nicht nur der Gegen wart galt, sondern schon Künftiges vorwegnahm: Wenn ein derartiger Meinungsaustausch zum Erwachsenendasein gehörte, dann erschien uns dieser Zustand nicht nur unerreichbar, sondern ganz und gar nicht erstrebenswert.
    In meiner Jugendzeit in einem anderen Vorort bekam das Radio Konkurrenz: einen riesigen Fernsehapparat, bei einer Versteigerung aus zweiter Hand erworben. Er war mit Walnussholz verkleidet, besaß durchgehende Flügeltüren, die seine Funktion verbargen, hatte die Ausmaße eines Zwergenkleiderschranks und schluckte Unmengen von Möbelpolitur. Oben drauf lag eine Familienbibel, ebenso überdimensional wie der Fernseher, und ebenso trügerisch. Denn es war die Familienbibel einer anderen Familie, und auf dem Vorsatzblatt war deren Stammbaum eingetragen, nicht unserer. Diese Bibel stammte gleichfalls von einer Versteigerung und wurde nie aufgeschlagen, nur Dad konsultierte sie manchmal vergnügt für sein Kreuzworträtsel.
    Die Stühle waren jetzt anders ausgerichtet, aber das Ritual blieb dasselbe. Die Pfeife wurde angezündet und die Näharbeit oder vielleicht auch das Nagelpflegeset herausgelegt: Feile, Nagellackentferner, Klebestreifen für eingerissene Nägel, Unterlack, Oberlack. Manchmal erinnert mich der Geruch von sauren Drops an das Basteln von Modellflugzeugen, aber häufiger noch an meine Mutter beim Lackieren ihrer Fingernägel. Und insbesondere an einen symbolischen Moment aus meiner Jugendzeit. Meine Eltern und ich sahen uns ein Interview mit John Gielgud an – besser gesagt, wir sahen zu, wie er die Fragen seines Gesprächspartners mühelos in einen Vorwand für weitschweifige selbstironische Anekdoten verwandelte. Meine Eltern gingen gern ins Theater, von Laienspielaufführungen bis zum West End, und hatten Gielgud bestimmt schon mehrmals vom Olymp aus gesehen. Ein halbes Jahrhundert lang war seine Stimme eins der schönsten Organe auf den Londoner Bühnen: Sie strahlte keine raue Kraft aus, sondern war kultiviert und geschmeidig, eine Stimme, wie meine Mutter sie aus gesellschaftlichen wie künstlerischen Gründen bewunderte. Während sich Gielgud wieder in einer seiner weltmännischen und etwas kicherigen Erinnerungen erging, fiel mir ein leises, aber hartnäckiges Geräusch auf, als wollte Dad diskret ein Streichholz entzünden, ohne es zu schaffen. Ein trockenes Scharren folgte auf das andere, akustische Graffiti, die an Gielguds Stimme kratzten. Das war natürlich meine Mutter, die ihre Nägel feilte.
    Mit dem Zwergenschrank konnte man mehr Spaß haben als mit dem Radio, weil er Western-Serien brachte: The Lone Ranger natürlich, aber auch Wells Fargo mit Dale Robertson. Meine Eltern schauten sich lieber Kämpfe für Erwachsene an, zum Beispiel Field Marshal Montgomery On Command In Battle, einen Sechsteiler, in dem der General erläuterte, wie er die Deutschen von Nordafrika aus durch ganz Europa verfolgt hatte, bis er in der Lüneburger Heide ihre Kapitulation entgegennahm – oder wie mein Bruder es heute in Erinnerung hat: »Der grässliche kleine Monty, wie er in Schwarz-Weiß herumtänzelt.« Auf dem Programm stand auch The Brains Trust, eine Art Any Quest ions? für Fortgeschrittene – d. h. noch geisttötender – und ebenfalls mit A. J.

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