Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
Vom Netzwerk:
Ayer. Naturfilme brachten die Familienrunde am ehesten zusammen: Armand und Michaela Denis mit ihrem neckischen belgischen Akzent und Safarianzügen mit vielen Taschen; Captain Cousteau mit seinen Froschbeinen; David Attenborough, der durchs Unterholz keuchte. Damals mussten die Zuschauer auf dem Quivive sein, wenn monochrome Gestalten sich im Tarn anzug vor einer monochromen Kulisse von Veld, Meeresgrund oder Dschungel bewegten. Heutzutage haben wir es leicht – man verwöhnt uns mit Farbe und Nahaufnahmen und zeigt uns die ganze Wirrnis und Schönheit eines gottesfreien Universums aus der Gottesperspektive.
    Seit einiger Zeit sind Kaiserpinguine groß in Mode, und Off-Kommentare in Film und Fernsehen fordern uns zum Anthropomorphismus auf. Wie können wir diesen liebenswert tollpatschigen Zweifüßlern widerstehen? Seht doch, wie sie sich liebevoll an die Brust ihres Partners schmiegen, ein kostbares Ei zwischen den elterlichen Füßen herumschieben, sich die Nahrungssuche teilen wie wir uns den Einkaufsdienst im Supermarkt. Schaut mal, wie die ganze Gruppe sich gegen den Schneesturm aneinanderkuschelt und damit ihren gesellschaftlichen Altruismus demonstriert. Haben diese das Ei umsorgenden, sich Hausarbeit und Nachwuchspflege teilenden, saisonal monogamen Kaiser der Antarktis nicht eine frappierende Ähnlichkeit mit uns? Mag sein; doch nur in dem Maße, wie wir eine gar nicht frappierende Ähnlichkeit mit ihnen haben. Wir schaffen es ebenso gut wie sie, als Gottes Geschöpfe zu gelten, während wir von unstillbaren evolutionären Trieben gebeutelt und umgarnt werden. Und da dies nun einmal so ist, was bedeutet das – abermals – für die These, das Staunen über das natürliche, aber leere Universum sei ein vollgültiger Ersatz für das Staunen über die Werke eines imaginären Freundes, den wir uns selbst erschaffen haben? Nachdem wir als Spezies ein evolutionäres Bewusstsein unserer selbst erlangt haben, können wir nicht mehr zurück und Pinguine oder sonst was werden. Zuvor war das Staunen ein Gefühl stammelnder Dankbarkeit für die Großzügigkeit eines Schöpfers oder aber schlotternde Angst vor seiner Fähigkeit, Furcht und Schrecken zu verbreiten. Nun, da wir allein sind, müssen wir überlegen, wem unser gottloses Staunen gelten könnte. Es kann nicht einfach nur es selbst sein, nur reiner und wahrer. Es muss irgendeine Funktion haben, einen biologischen Nutzen, einen praktischen, lebensrettenden oder lebensverlängernden Zweck. Vielleicht soll es uns bei der Suche nach einem anderen Lebensraum helfen, wenn der Tag kommt, an dem wir unseren eigenen Planeten endgültig zerstört haben. Doch so oder so – kann es einen Reduktionismus geben, der nicht reduziert?
    Eine Frage und zugleich ein Paradox. Unsere Geschichte ist eine des allmählichen, wenn auch holprigen Aufschwungs des Individualismus: von der Tierherde, der Sklavengesellschaft, der Masse ungebildeter, von Priestern und Königen herumkommandierter Wesen zu lockeren Gruppierungen, die dem Individuum mehr Rechte und größere Freiheiten gewähren – das Recht auf das Streben nach Glück, auf eigenständiges Denken, Selbstverwirklichung und Zügellosigkeit. Und während wir die Regeln von Priestern und Königen abschütteln, während die Wissenschaft uns zu einem Verständnis der wahren Bedingungen und Gegebenheiten unseres Lebens verhilft, während unser Individualismus immer gröbere und egoistischere Formen annimmt (wozu wäre Freiheit sonst da?), entdecken wir zugleich, dass diese Individualität oder diese Illusion von Individualität nicht ganz hält, was sie versprach. Wir stellen zu unserer Überraschung fest, dass wir – wie Dawkins so eindrucksvoll formuliert – »Überlebensmaschinen sind, fahrende Roboter, die blind auf die Erhaltung der selbstsüchtigen Moleküle programmiert sind, die wir Gene nennen«. Das Paradox besteht darin, dass der Individualismus – der Triumph freigeistiger Künstler und Wissenschaftler – uns zu einem Bewusstsein unserer selbst verholfen hat, in dem wir uns nunmehr als der Genetik gehorchende Wesen sehen können. Meine pubertäre Vorstellung der Selbsterschaffung – diese von einem verschwommenen, englischen Existentialismus geprägte, ums Ego kreisende Hoffnung auf Autonomie – konnte nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein. Ich hatte mir eingebildet, der beschwerliche Prozess des Erwachsenwerdens würde damit enden, dass ein Mann endlich auf eigenen Füßen steht – ein homo

Weitere Kostenlose Bücher