Nichts, was man fürchten müsste
Theaterwissenschaftler kürzlich schrieb: »Dieser Autor war selbst nach den Maßstäben unseres literarischen Herbariums ein hochgiftiges Exemplar.« Wischnewskis Stück spielt während der bolschewistischen Revolution an Bord eines Schiffs und stellt die Welt bewundernswert so dar, wie die Machthaber sie gern sehen wollten. Eine junge Kommissarin kommt und will der Mannschaft von anarchistischen Matrosen und russischen Offizieren alter Schule die Parteilinie erläutern und aufzwingen. Sie stößt auf Gleichgültigkeit und Skepsis, ja, es kommt gar zu einem tätlichen Angriff: Ein Matrose will sie vergewaltigen, woraufhin sie ihn erschießt. Dieses Beispiel kommunistischer Tatkraft und umgehender Selbstjustiz bekehrt die Seeleute, und schnell wird aus ihnen eine schlagkräftige Kampfeinheit. Bei einem Einsatz gegen die kriegstreiberischen, gottgläubigen, kapitalistischen Deutschen geraten sie irgendwie in Gefangenschaft, erheben sich aber heldenhaft gegen ihre Widersacher. Die beflügelnde Kommissarin wird im Kampf getötet und stirbt mit der flehenden Bitte an die nunmehr vollständig sowjetisierten Matrosen: »Wahrt stets … die große Tradition … der Roten Flotte.« Vorhang.
Schostakowitschs Humor entzündete sich nicht an der karikaturistisch linientreuen Handlung von Wischnewskis Stück, sondern an seinem Titel: Eine optimistische Tragö die. Sowjetkommunismus, Hollywood und organisierte Religion standen sich näher, als ihnen selbst bewusst war, Traumfabriken, die dieselben Fantasiegebilde produzierten. »Tragödie bleibt Tragödie«, pflegte Schostakowitsch zu sagen, »und Optimismus steht auf einem ganz anderen Blatt.«
Ich habe zwei Tote gesehen und eine Leiche berührt; aber ich habe noch nie einen Menschen sterben sehen und werde es vielleicht auch nie, es sei denn, ich sehe mich eines Tages selbst sterben. Wenn nicht mehr über den Tod geredet wird, seit man ihn wahrhaft zu fürchten begann, und erst recht nicht, seit wir immer länger leben, so ist er auch von der Tagesordnung verschwunden, weil er nicht mehr da, nicht mehr bei uns im Haus ist. Wir machen den Tod heute so unsichtbar wie möglich und zum Bestandteil eines Vorgangs – vom Arzt über das Krankenhaus bis zum Bestattungsunternehmen und Krematorium –, in dem uns Fachleute und Bürokraten sagen, was wir zu tun haben, bis wir dann endlich uns selbst überlassen sind, Überlebende, die mit einem Glas in der Hand herumstehen, Dilettanten, die das Trauern lernen. Doch es ist noch nicht so lange her, dass Sterbende bei ihrer letzten Krankheit zu Hause waren, ihr Leben im Kreise der Familie aushauchten, von Frauen aus der Nachbarschaft gewaschen und aufgebahrt wurden; man hielt ein, zwei Nächte in geselliger Runde die Totenwache, dann wurde die Leiche vom Bestattungsunternehmer des Orts in den Sarg gelegt. Wir wären wie Jules Renard hinter einem schwankenden, von Pferden gezogenen Leichenwagen hergegangen und hätten auf dem Friedhof zugeschaut, wie der Sarg hinabgelassen wurde und sich ein fetter Wurm am Grabesrand spreizte. Wir wären stärker beteiligt gewesen und hätten mehr Anteil genommen. Was den Toten zugutegekommen wäre (auch wenn mein Bruder mich jetzt wieder auf deren hypothetische Wünsche verweist) und uns wahrscheinlich auch. Das alte System sorgte für einen würdevolleren Übergang vom Leben zum Tod, und vom Tod zum Verschwinden. Sicher entspricht das moderne Eilverfahren eher unserer heutigen Sicht des Todes – eben warst du noch lebendig, jetzt bist du tot, und wahrhaftig tot, also springen wir ins Auto und bringen es hinter uns. (Wessen Auto nehmen wir? Nicht das, das sie sich gewünscht hätte.)
Strawinski sah sich Ravels Leichnam an, bevor dieser in den Sarg gelegt wurde. Er war auf einem schwarz verhangenen Tisch aufgebahrt. Alles war in Schwarz-Weiß gehalten: schwarzer Anzug, weiße Handschuhe, der Kopf noch vom weißen Krankenhausturban umschlungen, schwarze Falten auf einem sehr bleichen Gesicht, das einen »Ausdruck großer Erhabenheit« zeigte. Und damit war die Majestät des Todes auch schon am Ende. »Ich war bei der Beerdigung«, notierte Strawinski. »Eine betrübliche Angelegenheit, so ein bürgerliches Begräbnis, wo alles außer dem Protokoll verboten ist.« Das war 1937 in Paris. Als Strawinski vierunddreißig Jahre später selbst an der Reihe war, wurde sein Leichnam von New York nach Paris geflogen und von dort nach Venedig überführt, wo überall schwarzlila Spruchbänder hingen: DIE STADT
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