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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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Kalifornien, Wilson in New York. Sie war auf einer Party in Santa Barbara und trug hochhackige Schuhe. Beim Weggehen stolperte sie, stürzte eine Steintreppe hinunter, brach sich den Schädel und starb. Der Vorfall ergab in Wilsons Tagebuch fünfundvierzig Seiten der ehrlichsten selbstkasteienden Trauer, die je geschrieben wurde. Wilson beginnt seine Aufzeichnungen, während sein Flugzeug langsam und in geringer Höhe gen Westen fliegt, als könne diese forcierte literarische Tätigkeit ihm helfen, seine Gefühle auszuschalten. In den folgenden Tagen entwickeln sich diese Notizen zu einem eigenartigen Monolog der Huldigung, erotischen Reminiszenz, Reue und Verzweiflung. »Eine entsetzliche Nacht, doch sogar die erschien in der Erinnerung wundervoll«, schreibt er an einer Stelle. In Kalifornien fleht Margaret Canbys Mutter ihn an: »Du musst an die Unsterblichkeit glauben, Bunny, du musst!« Aber er will und kann es nicht: Margaret ist tot und kommt nicht wieder.
    Wilson erspart sich und seinen prospektiven Lesern nichts. Jeder niederträchtige Vorwurf Margaret Canbys wird für die Nachwelt festgehalten. Einmal sagte sie zu ihrem nörgelnden und krittelnden Mann, die passende Grabinschrift für ihn wäre: »Mach dich erst mal anständig zurecht.« Er singt auch Loblieder auf sie: im Bett, im Rausch, in Tränen aufgelöst, verwirrt. Er erinnert sich, wie er die Fliegen verscheuchte, als sie sich an einem Strand liebten, und verklärt ihren »durchtriebenen« Körper mit seinen kurzen Gliedmaßen (»Sag so was nicht!«, protestierte sie dann. »Das klingt ja, als wäre ich eine Schildkröte.«) zu einer Ikone. Er ruft sich ihre bezaubernden Wissenslücken ins Gedächtnis – »Ich habe herausgefunden, was dieses Ding da über der Tür ist – es ist ein Stutzen« – und stellt sie ihrem fortwährenden Gejammer gegenüber: »Irgendwann dreh ich durch! Warum tust du nichts für mich?« Sie warf ihm vor, er behandle sie wie irgendeinen Luxusartikel, wie ein Parfüm von Guerlain: »Du wärst heilfroh, wenn ich tot wäre, und das weißt du auch.«
    Dieser Bewusstseinsstrom der Trauer bezieht seine Wirkung daraus, dass Wilson seine Frau vor wie nach der Hochzeit schlecht behandelt hat und sein Kummer von berechtigten Schuldgefühlen gezeichnet ist. Das erfrischende Paradox von Wilsons Zustand besteht darin, dass der Tod des Menschen, der ihm Gefühllosigkeit vorwarf, Gefühle in ihm freisetzte. Und der Satz, den ich nie vergessen konnte, heißt: »Nachdem sie tot war, liebte ich sie.«
    Es ist unwichtig, dass Bunny Wilson ein kalter Fisch und ein verdorbener Mensch war. Es ist unwichtig, dass ihre Beziehung ein Fehler war und ihre Ehe eine Katastrophe.
    Wichtig ist nur, dass Wilson die Wahrheit sagte und man die aufrichtige Stimme der Reue hört, wenn er schreibt: »Nachdem sie tot war, liebte ich sie.«

    Wir können uns immer für das Wissen und gegen die Unwissenheit entscheiden; wir können uns wünschen, unser Sterben bewusst zu erleben; wir können auf ein »Bestcase«-Szenario hoffen, bei dem wir ruhigen Gemüts einen allmählichen Verfall beobachten, womöglich mit einem Voltaire’schen Finger am schwächer werdenden Puls. Vielleicht bekommen wir das alles; dennoch sollten wir bedenken, was Arthur Koestler dazu zu sagen hat. In Ein spanisches Testament beschreibt er seine Erlebnisse in den franquistischen Gefängnissen von Malaga und Sevilla während des Spanischen Bürgerkriegs. Natürlich ist es ein Unterschied, ob jungen Männern die Hinrichtung durch ihre politischen Gegner bevorsteht oder ob ältere Männer und Frauen, die ihr Leben zum größten Teil hinter sich haben, über ein sanfteres Ende nachdenken. Doch Koestler beobachtete viele Todgeweihte – wozu er, wie er damals überzeugt war, auch selbst gehörte – und zog mehrere Schlüsse daraus. Erstens, niemand kann je wirklich an seinen eigenen Tod glauben, nicht einmal in der Todeszelle, nicht einmal, wenn er hört, wie seine Freunde und Gefährten erschossen werden; ja, Koestler meinte, man könne das quasi mathematisch ausdrücken – »der Unglaube an den Tod wächst proportional zu seinem Herannahen«. Zweitens, das Gehirn kann auf verschiedene Tricks zurückgreifen, wenn es sich mit dem Tod konfrontiert sieht: Es produziert »barmherzige Narkotika oder ekstatische Aufputschmittel«, um uns irrezuführen. Insbesondere kann das Gehirn, wie Koestler meinte, eine Zweiteilung des Bewusstseins herbeiführen, sodass die eine Hälfte gelassen

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