Nichts, was man fürchten müsste
zurückgestoßen wurde; hellwach, allein, mutterseelenallein, drosch ich mit der Faust auf das Kissen ein und schrie ein endlos jammerndes »O nein o nein O NEIN «, und der Horror des Augenblicks – dieser Minuten – schlug über einer Szene zusammen, die einem unvoreingenommenen Zeugen vielleicht wie eine schockierende Zurschaustellung exhibitionistischen Selbstmitleids vorgekommen wäre. Das sich obendrein nicht artikulieren konnte, denn manchmal schäme ich mich dafür, dass die Worte, die da aus meinem Mund kommen, so gar nichts Anschauliches oder Ansprechendes haben. Du bist Schrift steller, Herrgott noch mal, sage ich zu mir. Du arbeitest mit Worten. Kannst du das nicht besser hinkriegen? Kannst du dem Tod nicht interessanter Paroli bieten – gut, du wirst ihm nie Paroli bieten, aber kannst du nicht wenigstens interessanter gegen ihn aufbegehren? Wir wissen, dass extreme körperliche Schmerzen dem Menschen die Sprache verschlagen; es ist eine erschütternde Erfahrung, dass mentale Schmerzen dasselbe bewirken.
Ich habe einmal gelesen, dass auch Zola so aus seinem Bett hochfuhr wie eine Rakete, vom Schlaf in die Todesangst katapultiert. Als ich Mitte zwanzig war und noch nichts veröffentlicht hatte, hielt ich ihn für einen Bruder im Geiste, aber ich hatte auch eine böse Vorahnung: Wenn das einem über fünfzigjährigen, weltberühmten Schriftsteller noch passiert, dann wird es bei mir mit den Jahren wohl kaum besser werden. Die Schriftstellerin Elizabeth Jane Howard hat mir einmal erzählt, von allen Menschen, die sie je gekannt habe, seien ihr Exgatte Kingsley Amis, Philip Larkin und John Betjeman am schlimmsten vom Tod verfolgt worden. Da drängt sich der Eindruck auf, das könne eine Schriftstellermacke, vielleicht gar eine Macke männlicher Schriftsteller sein. Kingsley Amis hat immer behauptet – was bei seiner Biografie komisch anmutet –, Männer seien sensibler als Frauen.
Ich habe da starke Zweifel – sowohl was die Männer als auch was die Schriftsteller angeht. Früher, als ich »nur« Leser war, dachte ich immer, weil Schriftsteller Bücher schrieben, die Wahrheiten enthielten, weil sie die Welt schilderten, weil sie den Menschen ins Herz schauten, weil sie sowohl das Allgemeine als auch das Besondere erfassten und beides in freier und doch strukturierter Form wiederzugeben vermochten, weil sie etwas verstanden, müssten sie sensibler – und weniger eitel, weniger ichbezogen – sein als andere Menschen. Dann wurde ich Schriftsteller, lernte andere Schriftsteller kennen, beobachtete sie und kam zu dem Schluss, dass es nur einen einzigen Unterschied zwischen ihnen und anderen Leuten gibt, nur einen einzigen Punkt, in dem sie besser sind als andere – sie können besser schreiben. Vielleicht sind sie wirklich sensibel, scharfsichtig und klug und haben das Allgemeine wie auch das Besondere im Blick – aber nur an ihrem Schreibtisch und in ihren Büchern. Wenn sie sich in die Welt hinausbegeben, benehmen sie sich regelmäßig so, als wäre ihr ganzes Verständnis für menschliche Verhaltensweisen in ihren Manuskripten stecken geblieben. Und das gilt nicht nur für Schriftsteller. Wie klug sind Philosophen im Privatleben?
»Keinen Deut klüger, nur weil sie Philosophen sind«, antwortet mein Bruder. »In ihrem halböffentlichen Leben eher schlechter und lange nicht so klug wie viele andere Geisteswissenschaftler.« Ich weiß noch, wie ich einmal Bertrand Russells Autobiografie hinwarf, nicht etwa ungläubig, sondern mit einer Art gläubigem Entsetzen. Er schildert den Anfang vom Ende seiner ersten Ehe so: »Eines Nachmittags machte ich eine Fahrradtour, und als ich eine Landstraße entlangradelte, wurde mir plötzlich klar, dass ich Alys nicht mehr liebte. Bis zu diesem Augenblick hatte ich keine Ahnung gehabt, dass meine Liebe zu ihr auch nur nachließ.« Die einzige logische Reaktion auf diesen Satz, auf seine Weiterungen und seine Diktion wäre: Philosophen sollten nicht auf Fahrräder steigen. Und vielleicht auch keine Ehe eingehen. Sie sollen mit Gott über die Wahrheit disputieren, weiter nichts. Da wüsste ich Russell gern an meiner Seite.
An meinem sechzigsten Geburtstag treffe ich mich zum Mittagessen mit T., einem meiner wenigen religiösen Freunde. Oder meine ich, einer der wenigen, die sich gläubig nennen? Auf jeden Fall ist er katholisch, trägt ein Kreuz um den Hals und hat, zum Entsetzen einiger früherer Freundinnen, ein Kruzifix über seinem Bett hängen. Ja,
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