Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
Vom Netzwerk:
betrachtet, was die andere erlebt. Damit sorgt das Bewusstsein dafür, dass »seine vollständige Vernichtung nie erlebt wird«. Zwanzig Jahre davor hatte Freud in »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« geschrieben: »Der eigene Tod ist ja auch unvorstellbar; und sooft wir den Versuch dazu machen, können wir bemerken, dass wir eigentlich als Zuschauer weiter dabeibleiben.«
    Koestler zieht auch die Zuverlässigkeit der Selbstbeobachtung Sterbender in Zweifel, selbst wenn sie anscheinend bei klarem Verstand sind. »Ich glaube nicht, dass seit Anbeginn der Welt je ein Mensch bewusst gestorben ist. Als Sokrates im Kreise seiner Schüler nach dem Schierlingsbecher griff, war er bestimmt mindestens zur Hälfte überzeugt, das sei nur ein Spiel … Natürlich wusste er, dass das Leeren des Bechers theoretisch zum Tode führen würde; doch er muss das Gefühl gehabt haben, das sei alles ganz anders, als seine aufgeregten, humorlosen Schüler es sich vorstellten, und es stecke ein schlauer Trick dahinter, den nur er selbst kannte.«
    Koestler lässt Ein spanisches Testament mit einer Szene enden, die so filmreif, so raffiniert und so unglaubwürdig ist, dass er sie sich unmöglich ausgedacht haben kann. Er ist im Austausch gegen die Frau eines franquistischen Jagdfliegerhelden aus dem Gefängnis freigelassen worden, und dieser soll Koestler zum Treffpunkt fliegen. Als ihr Flugzeug über einer unermesslichen weißen Hochebene schwebt, nimmt der Pilot im Schwarzhemd die Hand vom Steuerknüppel und verwickelt seinen politischen Feind in eine gebrüllte Unterhaltung über Leben und Tod, linke und rechte Weltanschauung, Mut und Feigheit. »Bevor wir lebendig wurden«, schreit der Schriftsteller dem Piloten dabei zu, »waren wir alle tot.« Der Pilot stimmt ihm zu und fragt dann: »Aber warum hat man dann Angst vor dem Tod?« – »Ich hatte nie Angst vor dem Tod«, erwidert Koestler, »nur vor dem Sterben.« – »Bei mir ist es genau umgekehrt«, ruft der Mann im Schwarzhemd zurück.
    Allerdings haben sie sich vermutlich auf Spanisch angebrüllt. Angst vor dem Tod oder Angst vor dem Sterben, was wäre Ihnen lieber? Sind Sie für den Kommunisten oder für den Faschisten, den Schriftsteller oder den Piloten? Fast jeder fürchtet das eine unter Ausschluss des anderen; es ist, als hätte ein Menschenherz nicht für beides Platz. Wer den Tod fürchtet, hat keine Angst vor dem Sterben; wer Angst vor dem Sterben hat, fürchtet den Tod nicht. Es gibt aber keinen logischen Grund, warum eins das andere ausschließen sollte, keinen Grund, warum sich das Menschenherz mit ein bisschen Übung nicht weiten sollte, damit es für beides reicht. Als jemand, dem das Sterben nichts ausmachen würde, sofern ich hinterher nicht tot wäre, kann ich schon mal den Anfang machen und mir überlegen, wie meine Ängste vor dem Sterben aussehen könnten. Ich fürchte mich davor, so zu werden wie mein Vater, der neben seinem Krankenhausbett auf einem Stuhl saß, mich mit ganz untypischem Zorn herunterputzte – »du hast gesagt, du würdest gestern kommen« – und dann an meiner Verlegenheit merkte, dass er selbst etwas durcheinandergebracht hatte. Ich fürchte mich davor, so zu werden wie meine Mutter, die sich einbildete, sie spiele immer noch Tennis. Ich fürchte mich davor, so zu werden wie ein Freund, der seinen Tod herbeisehnte und mir mehrfach anvertraute, er habe genügend Pillen gesammelt und geschluckt, um sich umzubringen, und nun von der Angst umgetrieben wurde, eine Krankenschwester könnte deshalb Schwierigkeiten bekommen. Ich fürchte mich davor, so zu werden wie dieser durch und durch liebenswürdige Literat, den ich einmal kannte; als er dann senil wurde, sprudelte er vor seiner Frau die ausgefallensten sexuellen Fantasien heraus, als hätte er das insgeheim schon immer mit ihr anstellen wollen. Ich fürchte mich davor, so zu werden wie der achtzigjährige Somerset Maugham, der hinter dem Sofa die Hosen herunterließ und auf den Teppich schiss (selbst wenn das eine glückliche Erinnerung an meine Kindheit wäre). Ich fürchte mich davor, so zu werden wie ein älterer Freund von mir, ein ebenso kultivierter wie empfindsamer Mensch, dessen Blick animalischen Schrecken ausdrückte, als die Krankenschwester in seinem Pflegeheim in Gegenwart von Besuchern verkündete, sie müsse jetzt seine Windeln wechseln. Ich fürchte mich vor dem nervösen Lachen, das ich von mir geben werde, wenn ich eine Anspielung nicht ganz verstehe oder eine

Weitere Kostenlose Bücher