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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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VENEDIG ER WEIST DEM GROSSEN MUSIKER IGOR STRAWINSKI DIE LETZTE EHRE, DER AUS FREUNDSCHAFTLICHER VERBUNDENHEIT IN DER STADT BEGRABEN WER DEN WOLLTE, DIE ER ÜBER ALLES LIEBTE . Der Archimandrit von Venedig leitete den griechisch-orthodoxen Gottesdienst in der Kirche Santi Giovanni e Paolo, dann wurde der Sarg an der Colleoni-Statue vorbeigetragen und von vier Gondolieri auf einem Totenschiff zur Friedhofsinsel San Michele hinausgerudert. Dort warfen der Archimandrit und Strawinskis Witwe mit den Händen Erde auf den Sarg, während er in die Gruft hinabgelassen wurde. Der große Flaubert-Forscher Francis Steegmuller war damals dabei. Er meinte, als der Leichenzug sich von der Kirche zum Kanal bewegte und die Venezianer aus allen Fenstern schauten, habe das wie eine prunkvolle Szene von Carpaccio gewirkt. Mehr, viel mehr als nur das Protokoll.
    Es sei denn, ich sehe mich eines Tages selbst sterben. Würde man das eigene Sterben lieber bewusst erleben oder lieber nicht? (Es gibt noch eine dritte – und äußerst beliebte – Alternative: Man wird zu dem Glauben verleitet, man befinde sich auf dem Wege der Besserung.) Man sollte aber genau überlegen, was man sich wünscht. Roy Porter wollte bei vollem Bewusstsein sterben: »Sonst würde man doch einfach etwas verpassen.« Weiter sagte er: »Natürlich wünscht man sich keine unerträglichen Schmerzen und dergleichen. Aber ich glaube, man wäre gern mit den Menschen zusammen, die einem wichtig sind.« Das war Porters Hoffnung, und jetzt kommt die Realität. Er war fünfundfünfzig Jahre alt, hatte sich unlängst vorzeitig pensionieren lassen, war mit seiner fünften Frau nach Sussex gezogen und arbeitete als freier Schriftsteller. Er war mit dem Fahrrad auf dem Heimweg von seinem Schrebergarten (man stellt sich unwillkürlich so eine Landstraße vor wie die, auf der Bertrand Russell von seiner ehelichen Er kenntnis getroffen wurde), als er plötzlich einen Herzinfarkt bekam und allein am Straßenrand starb. Ob er Zeit genug hatte, sich selbst beim Sterben zuzusehen? Ob er wusste, dass er starb? Galt sein letzter Gedanke der Erwartung, er würde im Krankenhaus aufwachen? An seinem letzten Morgen hatte er Erbsen gepflanzt (was den französischen Kohlköpfen vielleicht am nächsten kommt). Und er hatte einen Strauß Blumen mit nach Hause bringen wollen, die dann von einem Augenblick zum anderen zu seinem eigenen Gedenken am Straßenrand lagen.

    Mein Großvater meinte, Reue sei das schlimmste Gefühl im Leben. Meine Mutter hatte diesen Ausspruch nicht verstanden, und ich weiß nicht, auf welche Ereignisse ich ihn beziehen soll.
    Tod und Reue 1 . Als François Renard nicht auf den Rat seines Sohnes hörte, doch eine Klistierspritze zu nehmen, und stattdessen einen Flinte nahm, mit Hilfe eines Spazierstocks beide Läufe abfeuerte und so einen »dunklen Fleck über der Taille, wie ein kleines erloschenes Feuer« erzeugte, schrieb Jules: »Ich werfe mir nicht vor, ihn nicht genug geliebt zu haben. Ich werfe mir vor, ihn nicht verstanden zu haben.«
    Tod und Reue 2 . Ein Satz aus den Tagebüchern von Edmund Wilson ist mir unvergesslich geblieben. Wilson starb 1972 ; die Ereignisse, auf die er sich bezieht, geschahen 1932 ; ich las 1980 davon, als The Thirties herauskam.
    Zu Beginn dieses Jahrzehnts hatte Wilson in zweiter Ehe eine gewisse Margaret Canby geheiratet. Sie war eine stämmige Upperclass-Lady, deren Gesicht Humor verriet und deren Geschmack sich auf »Champagnerniveau« bewegte: Vor Wilson hatte sie nie einen Mann gekannt, der sich seinen Lebensunterhalt mit eigener Arbeit verdiente. Im vorhergehenden Band seiner Tagebücher, The Twen ties, hatte Wilson sie den »besten weiblichen Trinkkumpan« genannt, den er je hatte. Er vermerkt dort, wann er zum ersten Mal den Plan fasste, sie zu heiraten, und auch seine vernünftigen Bedenken: »Obwohl wir uns gut verstanden, hatten wir nicht genügend Gemeinsamkeiten.« Dennoch heirateten sie; es wurde eine alkoholische Kumpanei, die von Anfang an im Zeichen von Untreue und vorübergehenden Trennungen stand. Wenn Wilson Margaret Canby gegenüber skeptisch war, so waren ihre Vorbehalte ihm gegenüber noch stärker. »Du bist ein kalter Fisch und ein verdorbener Mensch, Bunny Wilson«, sagte sie einmal zu ihm – eine Bemerkung, die Wilson mit typischer Schonungslosigkeit seinem Tagebuch anvertraute.
    Im September 1932 hatte sich das damals seit zwei Jahren verheiratete Paar wieder einmal getrennt. Margaret Canby war in

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