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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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vor anderen. Ich kann mich nicht erinnern, dass einer von beiden je richtig wütend war, Angst hatte oder vor Freude außer sich geriet. Ich neige zu der Ansicht, dass Mutter sich nie ein stärkeres Gefühl als schwere Verärgerung erlaubte, während Vaters Spezialgebiet zweifellos die Langeweile war.«
    Wenn mein Bruder und ich aufzählen sollten, was unsere Eltern uns beigebracht haben, fiele uns beiden nichts ein. Wir bekamen keine Lebensregeln mit, sollten aber intuitiv welche erfassen und befolgen. Sex, Politik und Religion wurden mit keinem Wort erwähnt. Es wurde davon ausgegangen, dass wir uns in der Schule und später auf der Universität nach Kräften anstrengen, einen Beruf erlernen, wahrscheinlich heiraten und vielleicht Kinder haben würden. Wenn ich mein Gedächtnis nach besonderen Anweisungen oder Ratschlägen vonseiten meiner Mutter – denn sie wäre die Gesetzgeberin gewesen – durchforste, fallen mir nur Maximen ein, die nicht direkt an mich gerichtet waren. Zum Beispiel: Nur Gauner und Spitzbuben tragen braune Schuhe zu einem blauen Anzug; man darf einen Uhrzeiger nie rückwärts drehen; Käsekekse gehören nicht in eine Dose mit süßem Gebäck. Alles keine Sprüche, die man sich unbedingt ins Stammbuch schreiben muss. Auch mein Bruder kann sich an nichts erinnern, was ausdrücklich gesagt wurde. Das mag umso merkwürdiger erscheinen, als unsere Eltern beide Lehrer waren. Es sollte alles durch moralische Osmose geschehen. »Meiner Ansicht nach«, fügt mein Bruder hinzu, »zeichnen sich gute Eltern natürlich dadurch aus, dass sie keine Ratschläge erteilen oder Vorschriften machen.«

    In der Kindheit geben wir uns der selbstgefälligen Illusion hin, unsere Familie sei einzigartig. Später erkennen wir Parallelen zu anderen Familien und bringen sie gewöhnlich mit Klasse, Rasse, Einkommen und Interessen, seltener mit Psychologie und Dynamik in Verbindung. Vielleicht liegt es daran, dass mein Bruder nur achtzig Meilen von Chitry-les-Mines entfernt wohnt, wo Jules Renard aufgewachsen ist, dass nun gewisse Ähnlichkeiten hervortreten. Renard père et mère erscheinen wie eine überzogene, bühnenreife Ausgabe unserer Eltern. Die Mutter war geschwätzig und bigott, der Vater schweigsam und gelangweilt. François Renards Schweigegelübde ließ ihn mitten im Satz verstummen, wenn seine Frau den Raum betrat, und erst dann weitersprechen, wenn sie wieder gegangen war; mein Vater war eher durch die Redseligkeit und Dominanz meiner Mutter zum Schweigen verdammt.
    Jules, der jüngere Sohn der Renards – und mein Namensvetter –, konnte die Gegenwart seiner Mutter kaum ertragen; er grüßte sie und ließ sich von ihr küssen (küsste jedoch nie zurück), brachte es aber nicht über sich, mehr als unbedingt nötig zu sagen, und benutzte jeden Vorwand, um sie nicht zu besuchen. Ich verbrachte zwar mehr Stunden hintereinander mit meiner Mutter als Renard mit seiner, doch das ging nur, indem ich auf einen Modus geistiger Abwesenheit und Träumerei umschaltete; und obwohl sie mir als Witwe leidtat, konnte ich mich bei diesen späteren Besuchen nie überwinden, dort zu übernachten. Ich wollte mich nicht den greifbaren Erscheinungsformen der Langeweile aussetzen, dem Gefühl, der gnadenlose mütterliche Solipsismus ersticke meine Lebensgeister und sauge mir etwas von meiner Lebenszeit aus, etwas, was ich nie zurückbekommen würde, ob vor oder nach dem Tod.
    Ich erinnere mich an ein winziges Ereignis aus meiner Jugend, das emotional unnatürlich lange in mir nachhallte. Meine Mutter erzählte mir eines Tages, Dad habe eine Lesebrille verordnet bekommen und geniere sich deshalb; darum wäre es hilfreich, wenn ich mich positiv darüber äußerte. Ich wappnete mich seelisch für diese Aufgabe und tat brav die unerbetene Meinung kund, mein Vater sehe mit seiner neuen Brille »distinguiert« aus. Er bedachte mich mit einem ironischen Blick und würdigte mich keiner Antwort. Ich wusste sofort, dass er das Spiel durchschaut hatte; außerdem hatte ich das Gefühl, ich hätte ihn irgendwie hintergangen, mein falsches Lob mache ihm die Sache noch peinlicher, und meine Mutter habe mich benutzt. Im Vergleich zu dem Gift, das in anderen Familien verspritzt wird, war das natürlich nur eine homöopathische Dosis und als Kurierdienst nichts gegen das, was Jules Renard als Kind zugemutet wurde. Jules war noch ein kleiner Junge, als sein Vater – der sein Schweigen selbst unter extremen Umständen nicht brach – ihn

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