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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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manchmal auch Tagen oder gar Stunden – ist er reif für den Friedhof.
    Vor seinem Umzug von England nach Frankreich wollte mein Bruder sich die Ohren ausspritzen lassen. Die Krankenschwester bot ihm an, bei der Gelegenheit gleich noch seinen Blutdruck zu messen. Mein Bruder lehnte ab. Sie wies ihn darauf hin, dass es nichts kosten würde. Er antwortete, das sei alles gut und schön, aber er wolle das Angebot nicht nutzen. Die Schwester wusste offenbar nicht, was für einen Patienten sie vor sich hatte, und erläuterte, in seinem Alter könne er einen erhöhten Blutdruck haben. Mein Bruder erwiderte mit einer komischen Radiostimme aus einer Zeit, als die Schwester noch gar nicht auf der Welt war: »Ich will das nicht wissen.«
    »Und ich wollte es auch nicht wissen«, erklärt er mir. »Angenommen, meine Werte wären okay, dann wäre das Ganze nur Zeitverschwendung gewesen; angenommen, sie wären nicht okay, dann hätte ich nichts dagegen unternommen (keine Pillen genommen, meine Ernährung nicht umgestellt), mir aber ab und zu Sorgen gemacht.« Ich antworte, »als Philosoph« hätte er das doch als eine Pascal’sche Wette ansehen können. Da gäbe es dann drei mögliche Ergebnisse: 1 . Alles in Ordnung (gut). 2 . Da stimmt was nicht, aber wir biegen das schon wieder hin (gut). 3 . Da stimmt was nicht, aber tut uns leid, das können wir nicht wieder hinbiegen (schlecht). Doch mein Bruder sträubt sich gegen diese optimistische Rechnung. »Nein, nein. ›Da stimmt was nicht, aber wir biegen das schon wieder hin‹ = schlecht (ich mag nicht hingebogen werden). Und ›da stimmt was nicht und kann nicht wieder hingebogen werden‹ ist viel schlimmer, wenn man es weiß, als wenn man es nicht weiß.« Wie mein Freund G. sagte, »das eigentliche Unglück ist zu wissen, dass es geschehen wird«. Und mit seiner Option für das Nichtwissen ist mein Bruder unserem Vater ausnahmsweise einmal ähnlicher als ich.
    Ich sprach einmal mit einem französischen Diplomaten und versuchte, ihm meinen Bruder zu erklären. Ja, sagte ich, er ist Professor der Philosophie, war bis zu seinem fünfzigsten Lebensjahr in Oxford, lebt jetzt aber mitten in Frankreich und lehrt in Genf. »Dazu muss man wissen«, fuhr ich fort, »dass er den Ehrgeiz hat – einen sozusagen philosophischen Ehrgeiz –, nirgendwo zu wohnen. Er ist Anarchist, nicht im engen politischen, sondern in einem weiteren, philosophischen Sinn. Darum wohnt er in Frankreich, hat sein Bankkonto auf den Kanalinseln und lehrt in der Schweiz. Er möchte nirgendwo wohnen.« – »Und wo wohnt er in Frankreich?«, fragte der Diplomat. »Im Département Creuse.« Als Antwort kam ein pariserisches Glucksen. »Dann hat sich sein Ehrgeiz schon erfüllt! Er wohnt nirgendwo!«
    Haben Sie jetzt ein klares Bild von meinem Bruder? Oder brauchen Sie noch mehr grundlegende Fakten? Er ist drei Jahre älter als ich, ist seit vierzig Jahren verheiratet und hat zwei Töchter. Der erste vollständige Satz seiner älteren Tochter war: »Bertrand Russell ist ein alter Trottel.« Er erklärt mir, sein Haus sei eine gentilhommière (ich hatte es fälschlich als maison de maître bezeichnet: Die verbalen Abstufungen der Häusertypen in Frankreich sind so komplex wie die Bezeichnungen, die es früher für leichte Mädchen gab). Er besitzt etwa zweieinhalb Hektar Land und eine Koppel mit sechs Lamas, wahrscheinlich den einzigen im Département Creuse. Sein philosophisches Spezialgebiet sind Aristoteles und die Vorsokratiker. Vor Jahrzehnten hat er mir einmal erzählt, ihm sei »jetzt nichts mehr peinlich« – was es mir leichter macht, über ihn zu schreiben. Ach ja, und er kleidet sich gern im Stil des achtzehnten Jahrhunderts, alles von seiner jüngeren Tochter für ihn entworfen: untenrum Kniehosen, Strümpfe und Schnallenschuhe; obenrum Brokatweste, steifer Kragen und lange, mit einer Schleife gebundene Haare. Vielleicht hätte ich das früher erwähnen sollen.
    Er sammelte das Britische Empire, ich den Rest der Welt. Er wurde mit dem Fläschchen aufgezogen, ich wurde gestillt, und daraus habe ich abgeleitet, warum wir uns wesensmäßig auseinanderentwickelt haben: er zum durchgeistigten Kopfmenschen, ich zum sentimentalen Schwafler. Als pubertierende Schuljungen gingen wir jeden Morgen aus unserem Haus in Northwood, Middlesex, und machten uns auf die eineinviertelstündige Reise mit drei verschiedenen U-Bahnlinien zu unserer Schule im Zentrum Londons; am späten Nachmittag kehrten wir auf

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