Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
Vom Netzwerk:
du besser aus als letztes Mal, da hast du fürchterlich ausgesehen, einfach fürchterlich.« Dann fragte sie ihn: »Was hast du so gemacht?«, was ich für eine ziemlich blöde Frage hielt – und mein Vater auch, der sie ignorierte. Es folgten ein paar ergänzende Fragen über Fernsehen und Zeitungslektüre. Doch bei meinem Vater hatte es irgendwie gefunkt, und fünf Minuten später gab er ihr voller Wut – noch verstärkt durch seine Sprachbehinderung – die Antwort. »Du willst ständig wissen, was ich gemacht habe. Nichts .« Das kam mit einer entsetzlichen Mischung von Niedergeschlagenheit und Verzweiflung heraus (»Es gibt kein Wort, das so wahr, präzise und bedeutungsvoll ist wie das Wort ›nichts‹.«). Meine Mutter überhörte diese Bemerkung, als hätte mein Vater sich einen Fauxpas geleistet.
    Zum Abschied gab ich ihm wie immer die Hand und legte ihm die andere auf die Schulter. Als er mir gleich zweimal auf Wiedersehen sagte, brach seine Stimme mit einem gespenstisch kicksenden Krächzen, das ich auf ein Kehlkopfversagen schob. Später fragte ich mich, ob er wusste oder stark vermutete, dass er seinen jüngeren Sohn nie mehr wiedersehen würde. So weit ich zurückdenken kann, hat er mir nie gesagt, dass er mich liebt, und auch ich habe ihm dergleichen nicht gesagt. Nach seinem Tod erzählte meine Mutter mir, er sei »sehr stolz« auf seine Söhne gewesen; aber das musste wie so vieles andere osmotisch erschlossen werden. Zu meinem Erstaunen sagte sie auch, er sei »ein ziemlicher Einzelgänger« gewesen, aus seinen Freunden seien ihre Freunde geworden, und am Ende hätte sie ihnen nähergestanden als er. Ich weiß nicht, ob das stimmte oder ungeheure Wichtigtuerei war.
    Einige Jahre vor seinem Tod fragte mein Vater, ob ich die Memoiren des Herzogs von Saint-Simon besäße. Ja, ich hatte eine ziemlich affige, in scharlachrotes Leder gebundene Ausgabe in zwanzig Bänden, die ich nie aufgeschlagen hatte. Ich brachte ihm den ersten Band mit, den er in halsbrecherischem Tempo verschlang, und bei späteren Besuchen dann wunschgemäß die folgenden Bände. Wenn die Pflicht meine Mutter in die Küche rief und uns kurzfristig von ihrer Gegenwart befreite, saß er in seinem Rollstuhl und erzählte mir von den mörderischen Intrigen am Hofe Ludwigs XIV. Als es mit ihm zu Ende ging, griff ein weiterer Schlaganfall auch seine geistigen Fähigkeiten an: Meine Mutter erzählte mir, sie habe ihn dreimal dabei erwischt, wie er im Bad in seinen elektrischen Rasierapparat pinkeln wollte. Aber den Saint-Simon las er beharrlich weiter, und bei seinem Tod war er in der Mitte von Band sechzehn angelangt. Ein Lesezeichen aus roter Seide zeigt mir noch immer, welche Seite er zuletzt gelesen hat.
    Dem Totenschein zufolge ist mein Vater an a) einem Schlaganfall, b) einem Herzleiden und c) einem Lungenabszess gestorben. Wegen alldem war er in den letzten acht Wochen seines Lebens (wie auch in der Zeit davor) in Behandlung, aber daran ist er nicht unbedingt gestorben. Er ist – nichtmedizinisch gesprochen – daran gestorben, dass er erschöpft war und jede Hoffnung aufgegeben hatte. Und dass er die Hoffnung aufgegeben hatte, soll kein moralisches Werturteil sein. Oder doch, und zwar ein bewunderndes: Es war die richtige Reaktion eines intelligenten Mannes auf eine unabänderliche Situation. Meine Mutter sagte, sie sei froh, dass ich ihn ganz am Ende nicht mehr gesehen hätte: Er sei völlig abgemagert gewesen, habe Essen und Trinken verweigert und nicht mehr gesprochen. Nur als sie ihn bei ihrem letzten Besuch gefragt habe, ob er wisse, wer sie sei, habe er mit seinen vielleicht letzten Worten geantwortet: »Ich glaube, du bist meine Frau.«

    Am Todestag meines Vaters rief meine Schwägerin aus Frankreich an und meinte, meine Mutter dürfe in dieser Nacht auf keinen Fall allein im Haus bleiben. Andere setzten mir ebenso zu und rieten mir, Schlaftabletten zu besorgen (zum Schlafen, nicht für Selbstmord oder Mord). Als ich – widerstrebend – bei meiner Mutter ankam, begegnete sie mir mit unverwüstlichem Spott: »Ich bin seit acht Wochen jede Nacht allein im Haus«, sagte sie. »Was soll jetzt anders sein? Glauben die, ich würde …« Sie hielt inne und suchte nach einem Ende für diesen Satz. Ich schlug vor: »… mir etwas antun?« Sie nahm den Ausdruck auf: »Glauben die, ich würde mir etwas antun oder in Tränen ausbrechen oder sonst was Dummes anstellen?« Dann äußerte sie sich lebhaft verächtlich über

Weitere Kostenlose Bücher