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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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demselben Weg zurück. In den vier Jahren unserer gemeinsamen Fahrten ( 1957 – 61 ) hat sich mein Bruder nicht nur niemals in dasselbe Abteil gesetzt wie ich; er hat sogar niemals denselben Zug genommen. Das war ein Spiel zwischen älterem und jüngerem Bruder; doch wie mir später schien, steckte noch mehr dahinter.
    Bringt uns das irgendwie weiter? In der Literatur geht es anders zu als im Leben; in der Literatur nimmt uns der Schriftsteller die schwere Arbeit ab. Fiktionale Gestalten sind leichter zu »sehen«, sofern der Schriftsteller – und der Leser – etwas von seinem Handwerk versteht. Sie werden in einer bestimmten Entfernung aufgestellt, hierhin und dorthin geschoben, ins Licht gerückt, so gedreht, dass sie ihr tiefstes Inneres offenbaren; die Ironie, diese Infrarotkamera für Aufnahmen im Dunkeln, zeigt uns diese Figuren, wenn sie sich unbeobachtet glauben. Aber im Leben ist das anders. Je besser man einen Menschen kennt, desto schlechter sieht man ihn oft (und kann ihn umso schlechter in Literatur verwandeln). Er kann so nahe stehen, dass man ihn nur verschwommen sieht, und kein Schriftsteller ist am Werk, um diesen Nebel aufzulösen. Wenn wir über einen sehr vertrauten Menschen sprechen, beziehen wir uns oft auf den Moment, als wir ihn zum ersten Mal richtig erkannten, als er in das zweckmäßigste – und schmeichelhafteste – Licht und den richtigen Schärfebereich rückte. Vielleicht ist das ein Grund, warum manche Paare in offensichtlich unmöglichen Beziehungen verharren. Sicher kommen hier die üblichen Faktoren – Geld, sexuelle Potenz, gesellschaftliche Stellung, Angst vor dem Verlassenwerden – zum Tragen; aber vielleicht hat sich das Paar auch einfach aus den Augen verloren und hält an einer überholten Sicht und Lesart fest.
    Ab und zu rufen mich Journalisten an, die ein Porträt von einem meiner Bekannten erstellen wollen. Sie verlangen erstens eine markige Charakterzeichnung und zweitens ein paar anschauliche Anekdoten. »Sie kennen ihn/ sie doch – wie ist er/sie denn wirklich?« Das hört sich einfach an, aber ich weiß immer häufiger nicht, wo ich anfangen soll. Ach, wenn Freunde doch fiktionale Figuren wären! Also beginnt man etwa mit einer Reihe einkreisender Adjektive, wie ein Schütze, der ein Ziel anvisiert; aber man spürt sofort, wie der Mensch, der Freund, aus dem Leben in bloße Worte entschwindet. Manche Anekdoten machen etwas anschaulich; andere bleiben einfach in der Landschaft stehen und bewirken nichts. Vor ein paar Jahren wollte ein Journalist mich porträtieren und rief eine naheliegende Quelle im Département Creuse an. »Ich weiß überhaupt nichts über meinen Bruder«, bekam er zur Antwort. Ich glaube, das war kein brüderlicher Beschützerinstinkt; vielleicht war es Ärger. Oder philosophische Wahrhaftigkeit. Auch wenn mein Bruder womöglich bestreitet, dass er »als Philosoph« leugnete, mich zu kennen.
    Eine Anekdote über meinen Bruder und mich. Als wir noch klein waren, setzte er mich gern auf mein Dreirad, verband mir die Augen und stieß mich so schnell wie möglich gegen eine Mauer. Das habe ich von meiner Nichte C. erfahren, die es von ihrem Vater hatte. Ich selbst habe keinerlei Erinnerung daran und weiß nicht recht, ob ich irgendetwas daraus ableiten soll und wenn ja, was. Aber einen vorschnellen Schluss möchte ich Ihnen gleich ausreden. Für mich klingt das wie ein Spiel, das mir gefallen hätte. Ich kann mir meinen Freudenschrei vorstellen, wenn das Vorderrad gegen die Mauer prallte. Vielleicht habe ich das Spiel sogar vorgeschlagen oder um Wiederholung gebeten.
    Ich habe meinen Bruder gefragt, wie unsere Eltern seiner Meinung nach waren und wie er ihre Beziehung beschreiben würde. Dergleichen hatte ich ihn noch nie gefragt, und seine erste Reaktion ist typisch: »Wie sie waren? Ich habe wirklich keine Ahnung: Als ich ein kleiner Junge war, haben sich solche Fragen anscheinend nicht gestellt, und später war es zu spät.« Er nimmt sich dennoch der Aufgabe an: Er meint, sie seien gute Eltern gewesen, die uns »durchaus gern hatten« und tolerant und großzügig waren; »ihrem moralischen Wesen nach« seien sie »höchst konventionell – besser gesagt, typisch für ihre Klasse und ihre Zeit« gewesen. Aber, fährt er fort, »ihre hervorstechendste Eigenschaft – damals allerdings ganz und gar nicht hervorstechend – war das vollständige oder fast vollständige Fehlen jeden Gefühls oder zumindest der Äußerung von Gefühlen

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