Nichts, was man fürchten müsste
Facharzt, und als der neue Mann in der Akte blätterte, meinte er, da mein Vater offenkundig intelligent war und etwas überlebt hatte, woran man im Allgemeinen starb, müsse er das auch wissen. Auf der Rückfahrt sagte Dad ganz beiläufig und nebenbei zu Mum: »Mit so einem Hodgkin ist offenbar gar nicht zu spaßen.« Als meine Mutter aus seinem Mund das Wort hörte, das sie zwanzig Jahre lang eisern für sich behalten hatte, fuhr sie fast das Auto in den Straßengraben.
Im höheren Alter sprach mein Vater nur selten von seinen gesundheitlichen Problemen, es sei denn, es bot sich ein ironischer Kommentar dazu an: zum Beispiel, dass das Warfarin, das er als Blutgerinnungshemmer einnahm, auch als Rattengift verwendet wird. Meine Mutter ging mit ihrer eigenen Erkrankung dann unkomplizierter und freimütiger um, wobei auch gesagt werden muss, dass sie schon immer am liebsten über sich selbst geredet hatte und die Krankheit ihr nur zusätzlichen Gesprächsstoff lieferte. Sie fand es auch nicht unlogisch, ihren gelähmten Arm dafür zu schelten, dass er »zu nichts zu gebrauchen« war. Ich glaube, mein Vater hielt sein Leben und Leiden für relativ uninteressant – für andere und vielleicht auch für sich selbst. Für mich war es lange Zeit ein Zeichen für einen Mangel an Mut und purer menschlicher Neugier, wenn jemand nicht wissen will, was mit ihm los ist. Jetzt erkenne ich, dass es eine Strategie der Nützlichkeit war und vielleicht nie etwas anderes ist.
Ich kann mir meine Eltern nur für einen ganz kurzen Moment als ein Bündel von genetischem Material ohne jede Ich-Materie vorstellen. Nützlich – und daher unter praktischen Gesichtspunkten auch richtig – ist, gegen einen Stein zu treten und sich die Eltern so vorzustellen, wie es einem der gesunde Menschenverstand eingibt. Die Bündeltheorie legt aber ein anderes mögliches Strategem gegen den Tod nahe. Statt ein altmodisches, durch das Leben konstruiertes und wenn schon nicht liebenswertes, so doch für seinen Besitzer wesentliches Ich zu betrauern, könnte man ja auch denken, wenn es dieses Ich gar nicht so gibt, wie ich es mir vorstelle und wie ich es empfinde, warum sollte ich – oder ich – dann schon im Voraus darum trauern? Da würde ja eine Illusion um eine Illusion trauern, ein reines Zufallsbündel sich unnötig um das Entbündeln sorgen. Ob das ein überzeugendes Argument ist? Ob es imstande ist, den Tod zu durchdringen, wie ein Neutrino einen Fels durchdringt? Ich weiß nicht recht; ich muss wohl noch etwas Zeit ins Land gehen lassen. Obwohl mir natürlich sofort ein Gegenargument einfällt, das sich auf den Spruch »Alle sagen, das sei ein Klischee. Für mich fühlt es sich aber nicht wie ein Klischee an« stützt. Theoretiker des Geistes und der Materie können mir zwar erklären, dass mein Tod vielleicht nicht gerade eine Illusion ist, aber doch der Verlust von etwas, das unvollständiger entwickelt und weniger persönlich geprägt ist, als ich mir das einbilde und wünsche; trotzdem habe ich Zweifel, ob es sich für mich so anfühlen wird, wenn es einmal so weit ist. Wie ist Berkeley gestorben? Mit allen Tröstungen der Religion versehen und nicht mit dem theoretischen Trost, das seien alles sowieso nur persönliche Bilder.
Mein Bruder meint, wenn ich das Studium der Philosophie ausdauernder betrieben hätte, dann wüsste ich vielleicht, dass die Bündeltheorie »von einem gewissen David Hume erfunden« wurde; außerdem hätte mir »jeder Aristoteliker« sagen können, dass es keine Ich-Materie gibt, keinen Geist in der Maschine »und nicht mal eine Maschine«. Aber ich weiß auch manches, was er nicht weiß: zum Beispiel, dass unser Vater Morbus Hodgkin hatte. Ich staunte über die Entdeckung, dass mein Bruder nichts davon weiß oder sich jedenfalls nicht daran erinnert. »Ich erzähle mir die Geschichte (auch zur Warnung) so, dass er bis zum Alter von siebzig oder zweiundsiebzig Jahren körperlich und geistig bei bester Gesundheit war, und sobald er den Quacksalbern in die Hände fiel, ging es rapide bergab mit ihm.«
Diese abweichende Version – vielmehr völlig aus der Luft gegriffene Neuerfindung – vereint den weit gereisten Aristoteliker mit den Bauern aus seinem Département Creuse. In der französischen Landbevölkerung hält sich beharrlich der Mythos von dem kerngesunden Burschen, der eines Tages von den Hügeln herabsteigt und den Fehler macht, einen Arzt aufzusuchen. Innerhalb von Wochen – je nach Erzähler
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