Nichts, was man fürchten müsste
mit einem einfachen Anliegen zu seiner Mutter schickte: Er sollte in seinem Namen fragen, ob sie sich scheiden lassen wolle.
Renard sagt: »Der Horror vor dem Bourgeoisen ist selbst bourgeois.« Er sagt: »Die Nachwelt! Warum sollte die Menschheit morgen weniger dumm sein als heute?« Er sagt: »Ich hatte ein glückliches Leben mit einem Beigeschmack von Verzweiflung.« Er stellt fest, dass er verletzt war, als sein Vater ihm gegenüber kein einziges Wort über sein erstes Buch verlor. Meine Eltern ließen sich etwas mehr entlocken, auch wenn sie sich offenbar Talleyrands Warnung vor jedem Übereifer zu Herzen genommen hatten. Ich schickte ihnen den Roman, der nicht Kein Wetter heißt, sobald er erschienen war. Zwei Wochen lang herrschte Funkstille. Ich rief sie an; mein Vater erwähnte mit keiner Silbe, dass er das Buch bekommen hatte. Ein, zwei Tage später ging ich sie besuchen. Nach einer Stunde unverbindlichen Geplauders – das heißt meine Mutter redete, ich hörte zu – fragte sie, ob ich Dad zum Einkaufen fahren würde: eine höchst ungewöhnliche, ja noch nie da gewesene Bitte. Im Auto, wo jeder Blickkontakt unmöglich war, erklärte er mir von der Seite her, er finde das Buch gut geschrieben und komisch, aber die Sprache sei »etwas unter Niveau«; außerdem korrigierte er einen Genusfehler bei meinem Französisch. Wir blickten stur geradeaus, erledigten die Einkäufe und fuhren zum Bungalow zurück. Jetzt konnte auch meine Mutter ihre Meinung kundtun: Der Roman habe »durchaus etwas zu sagen«, das gestand sie mir zu, aber es sei ihr unerträglich gewesen, so mit unflätigen Ausdrücken »bombardiert« zu werden (da ging es ihr wie der Zensurbehörde von Südafrika). Ihren Freunden würde sie den Buchdeckel zeigen, sie aber nicht hineinschauen lassen.
»Einer meiner Söhne schreibt Bücher, die ich lesen, aber nicht verstehen kann, und der andere schreibt Bücher, die ich verstehen, aber nicht lesen kann.« Keiner von uns beiden schrieb, »was sie sich gewünscht hätte«. Als ich etwa zehn Jahre alt war, saß ich einmal mit ihr auf dem Oberdeck eines Omnibusses und spann mir irgendeine ausgedachte Geschichte zusammen, wie es Kindern in dem Alter so leicht fällt, und da erklärte mir meine Mutter, ich habe »zu viel Fantasie«. Den Begriff habe ich damals wohl nicht verstanden, aber es war klar, dass damit etwas Lasterhaftes gemeint war. Als ich mir Jahre später diese geschmähte Gabe zunutze machte, schrieb ich absichtlich so, »als wären meine Eltern schon tot«. Das ändert jedoch nichts an dem Paradox, dass hinter dem Schreiben meist der verhaltene Wunsch steckt, den eigenen Eltern Freude zu machen. Ein Schriftsteller kann seine Eltern ignorieren oder gar bewusst beleidigen wollen, er kann absichtlich Bücher schreiben, die ihnen aller Voraussicht nach nicht gefallen; doch irgendwo in seinem Innern ist er immer noch enttäuscht, wenn er ihnen keine Freude macht. (Würde er ihnen aber doch Freude machen, wäre er innerlich auch wieder enttäuscht.) Das ist ganz normal, auch wenn Schriftsteller sich immer wieder darüber wundern. Es mag ein Klischee sein, aber für mich fühlte es sich nicht so an.
Ich kann mich an einen lockenköpfigen Jungen erinnern, der eindeutig »zu viel Fantasie« hatte. Er hieß Kelly, wohnte in derselben Straße wie wir und war ein bisschen verrückt. Eines Tages, ich war sechs oder sieben Jahre alt und kam von der Schule nach Hause, sprang er hinter einer Platane hervor, stieß mir etwas in den Rücken und sagte: »Keine Bewegung, sonst trifft dich der Schlag.« Ich war auch ordentlich erschrocken und erstarrte; ich habe keine Ahnung, wie lange ich so stehen blieb, in seiner Gewalt, ohne zu wissen, ob er mich freilassen würde, ohne zu wissen, was da so hart in meinen Rücken gedrückt wurde. Ob noch weitere Worte fielen? Ich glaube nicht. Ich wurde nicht ausgeraubt: Es war die reinste Form eines Überfalls, bei dem es einzig und allein darum geht, jemanden in seine Gewalt zu bekommen. Nach ein paar schweißnassen Minuten beschloss ich, den Tod zu riskieren, nahm Reißaus und drehte mich dabei um. Kelly hielt einen Elektrostecker (so einen altmodischen Fünfzehn-Ampere-Stecker mit runden Stiften) in der Hand. Warum bin ich dann Schriftsteller geworden und er nicht?
Renard äußerte in seinen Tagebüchern den komplizierten Wunsch, seine Mutter möge seinem Vater untreu geworden sein. Psychologisch kompliziert, aber auch schwierig zu bewerten. Meinte er, das wäre eine
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