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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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angemessene Rache für das strafende Schweigen seines Vaters gewesen; dachte er, dann wäre seine Mutter ausgeglichener und umgänglicher geworden; oder sollte sie untreu sein, damit er sie noch mehr verachten konnte? Als meine Mutter schon Witwe war, schrieb ich eine Erzählung, die erkennbar im Bungalow meiner Eltern spielt (im Sprachgebrauch der Immobilienmakler ein »Chalet für gehobene Ansprüche«, wie ich später herausfand). Auch Charakter und Umgangsformen übernahm ich im Wesentlichen von meinen Eltern. Der Vater (still, ironisch) hat im vorgerückten Alter eine Affäre mit einer Arztwitwe aus einem Nachbardorf; als die Mutter (scharfzüngig, nervend) dahinterkommt, geht sie – jedenfalls lässt man uns das glauben, auch wenn wir uns nicht ganz sicher sein können – mit schweren französischen Kochtöpfen auf ihn los. Die Handlung – das heißt, die erlittene Handlung – wird aus der Perspektive des Sohns geschildert. Obwohl die Geschichte auf einem Senioren-Techtelmechtel basiert, von dem ich anderweitig erfahren hatte und das ich dann auf das häusliche Leben meiner Eltern übertrug, machte ich mir keine Illusionen über meine wahren Absichten. Ich wollte meinem Vater im Nachhinein – postum – ein bisschen Spaß, ein bisschen mehr Leben, ein bisschen Luft zum Atmen gönnen und überzeichnete meine Mutter zugleich ins Wahnsinnig-Verbrecherische. Und nein, ich glaube nicht, dass mein Vater mir dieses literarische Geschenk gedankt hätte.

    Am 17 . Januar 1992 sah ich meinen Vater zum letzten Mal; das war dreizehn Tage vor seinem Tod in einem Krankenhaus in Witney, etwa zwanzig Autominuten vom Wohnort meiner Eltern entfernt. Meine Mutter und ich hatten abgemacht, ihn in dieser Woche getrennt zu besuchen: sie am Montag und Mittwoch, ich am Freitag, sie am Sonntag. Laut Plan sollte ich also aus London anreisen, mit ihr zu Mittag essen, nachmittags Dad besuchen und dann wieder zurückfahren. Doch als ich zu Hause (wie ich weiterhin sagte, obwohl ich schon lange ein eigenes Zuhause hatte) ankam, wollte meine Mutter sich nicht mehr an unsere Abmachung halten. Das hatte irgendwas mit Wäsche und auch mit Nebel zu tun, aber vor allem hatte es damit zu tun, dass es absolut und verdammt typisch für meine Mutter war. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich als Erwachsener – von dieser abgekarteten literarischen Einkaufsfahrt abgesehen – jemals längere Zeit mit meinem Vater allein war. Meine Mutter war ständig präsent, auch wenn sie nicht im Zimmer war. Ich glaube nicht, dass sie Angst hatte, wir könnten hinter ihrem Rücken über sie reden (für mich jedenfalls wäre sie das letzte Thema gewesen, das ich mit meinem Vater erörtern wollte); es war eher so, dass nichts, was ohne ihr Beisein innerhalb oder auch außerhalb des Hauses geschah, irgendetwas galt. Also war sie ständig präsent.
    Bei unserer Ankunft im Krankenhaus tat sie etwas – auch das wieder absolut typisch –, was mich damals erschreckte und heute noch wütend macht. Als wir vor dem Zimmer meines Vaters standen, sagte sie, sie werde zuerst hineingehen. Ich nahm an, sie wolle sich vergewissern, dass er »anständig aussah«, oder habe sonst einen nicht näher spezifizierten ehefraulichen Grund. Aber nein. Sie erklärte, sie habe Dad nicht gesagt, dass ich an diesem Tag kommen würde (warum nicht? Immer alles kontrollieren wollen – wenn es nichts anderes gibt, dann wenigstens die Informationen), und das wäre doch eine nette Überraschung. Sie ging also hinein. Ich blieb zurück, konnte aber Dad zusammengesunken und mit dem Kopf auf der Brust auf seinem Stuhl sitzen sehen. Sie gab ihm einen Kuss und sagte: »Nimm den Kopf hoch.« Und dann: »Schau mal, wen ich mitgebracht habe.« Nicht: »Schau mal, wer dich besuchen kommt«, sondern: »Schau mal, wen ich mitgebracht habe.« Wir blieben etwa eine halbe Stunde, und mein Vater und ich konnten uns zwei Minuten lang über ein Fußballspiel unterhalten ( FA  – Cup, Leeds gegen Manchester United 0 : 1 , Torschütze Mark Hughes), das wir beide im Fernsehen gesehen hatten. Ansonsten war es wie in den vorangegangenen sechsundvierzig Jahren meines Lebens: Meine Mutter war ständig um uns herum, schwatzte, wuselte, veranstaltete einen Wirbel, kontrollierte, und meine Beziehung zu meinem Vater beschränkte sich darauf, dass wir uns hin und wieder zuzwinkerten oder einen Blick wechselten.
    Das Erste, was sie an diesem Nachmittag in meiner Gegenwart zu ihm sagte, war: »Heute siehst

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