Nichts, was man fürchten müsste
inkompetente Handwerker oder – wie die Verschwörungstheoretiker behaupten – mordgierige Anti-Dreyfusards am Werk gewesen waren. Die Zolas gingen zu Bett und schlossen nach alter abergläubischer Gewohnheit die Tür ab; der rauchlose Brennstoff im Kamin verströmte Kohlenmonoxid. Als Dienstboten am Morgen die Tür aufbrachen, fanden sie den Schriftsteller tot auf dem Boden liegen und Alexandrine – die der tödlichen Gaskonzentration um ein paar Zentimeter entgangen war – bewusstlos im Bett.
Zolas Körper war noch warm, darum versuchten ihn die Ärzte mit der Methode wiederzubeleben, die man fünf Jahre zuvor auch bei Daudet angewandt hatte: rhythmische Zungentraktion. Das war zwar in Zolas Fall etwas sinnvoller – die Technik war für Vergiftungen mit Faulschlammgas entwickelt worden –, hatte aber genauso wenig Erfolg. Als Alexandrine wieder zu sich gekommen war, erzählte sie, beide seien in der Nacht aufgewacht, weil sie von einer – wie sie meinten – Magenverstimmung geplagt wurden. Sie hatte die Dienstboten rufen wollen, doch er lehnte das mit den Worten ab, die seine (modernen, unheroischen) letzten sein sollten: »Morgen früh wird es uns besser gehen.«
Zola war bei seinem Tod zweiundsechzig Jahre alt, exakt so alt wie ich sein werde, wenn dieses Buch erscheint. Also fangen wir noch einmal von vorn an. MANN IN LON DON GESTORBEN, WENIGE BETROFFEN . In London starb gestern ein Mann im Alter von über zweiundsechzig Jahren. Er erfreute sich fast sein ganzes Leben lang guter Gesundheit und hatte vor seiner letzten Erkrankung nie eine Nacht im Krankenhaus verbracht. Nach einem langsamen und mittellosen Beginn seiner beruflichen Laufbahn wurde er erfolgreicher, als er selbst gedacht hätte. Nach einem langsamen und unsicheren Beginn seines Gefühlslebens wurde er so glücklich, wie sein Naturell es erlaubte (»Ich hatte ein glückliches Leben mit einem Beigeschmack von Verzweiflung«). Seinen selbstsüchtigen Genen zum Trotz unterließ er es – besser gesagt, er lehnte es ab – sie weiterzugeben, wobei er zudem glaubte, diese Weigerung stelle einen Akt des freien Willens gegenüber dem biologischen Determinismus dar. Er hat Bücher geschrieben, dann ist er gestorben. Obwohl ein Freund satirisch meinte, das Leben dieses Mannes habe sich zwischen Literatur und Küche (und der Flasche Wein) aufgeteilt, gab es auch andere Aspekte darin: Liebe, Freundschaft, Musik, Malerei, Gesellschaft, Reisen, Sport, Scherze. Er blieb gern für sich allein, solange er wusste, wann diese Einsamkeit ein Ende finden würde. Er liebte seine Frau und fürchtete den Tod.
Das klingt gar nicht übel, nicht wahr? Die Welt bringt viel schlechtere Leben und (hier kann ich nur raten) viel schlechtere Tode hervor, wozu also dieses ganze Theater um sein Hinscheiden? Soll heißen, warum macht er so ein Theater? Da begeht doch einer die englische Kardinalsünde, sich in den Vordergrund zu spielen. Und kann er sich nicht vorstellen, dass andere genauso viel Angst vor dem Tod haben wie er?
Nun, er – nein, kehren wir zum Ich zurück: Ich kenne viele Leute, die nicht so oft an den Tod denken. Und nicht daran zu denken ist der sicherste Weg, sich nicht davor zu fürchten – bis er dann kommt. »Das eigentliche Unglück ist zu wissen, dass es geschehen wird.« Meine Freundin H., die mir meine morbiden Gedanken gelegentlich zum Vorwurf macht, gibt zu: »Ich weiß, dass jeder andere sterben wird, aber ich denke nie, dass ich sterben werde.« Was sich zu der Plattitüde verallgemeinern lässt: »Wir wissen, dass wir sterben müssen, aber wir glauben, wir wären unsterblich.« Laufen die Leute wirklich mit solch himmelschreienden Widersprüchen im Kopf herum? Es muss wohl so sein, und für Freud war das normal: »Also unser Unbewusstes glaubt nicht an den eigenen Tod, es gebärdet sich wie unsterblich.« Demnach hat meine Freundin H. ihr Unbewusstes nur zum Herrn über ihr Bewusstes erhoben.
Irgendwo zwischen diesem zweckmäßigen, taktischen Wegschauen und meinem entsetzten Blick in die Grube gibt es eine vernünftige, reife, wissenschaftliche, liberale mittlere Position, es muss sie geben. Und hier ist sie, aufgestellt von Dr. Sherwin Nuland, einem amerikanischen Thanatologen und Autor des Buches Wie wir sterben: »Eine realistische Erwartung verlangt auch die Einsicht, dass die uns zugestandene Zeit auf Erden so begrenzt sein muss, wie es im Einklang mit dem Fortbestand der Menschheit steht … Wir sterben, damit die Welt
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