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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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gleichmütig in das Grab hinabschauen und es als sein eigenes ansehen konnte. Die Moral der Geschichte war nicht, dass das Indie-Grube-Schauen funktioniert, dass Philosophieren uns lehrt, wie wir sterben sollen; vielmehr war es eine Klage um den Verlust der Fähigkeit zur Anteilnahme, erst an Freunden, dann an sich selbst und schließlich sogar an der eigenen Auslöschung.
    Das wäre in der Tat unsere Tragödie, und der Tod könnte die einzige Erlösung davon sein. Ich stand der Vorstellung, dass das Alter Gelassenheit mit sich bringt, immer skeptisch gegenüber, denn vermutlich machen viele alte Menschen ebensolche emotionale Qualen durch wie junge, nur ist es gesellschaftlich untersagt, dass sie dies zugeben. (Das war der objektive Grund, warum ich meinem siebzigjährigen Vater in jener Geschichte noch eine Affäre zugestand.) Aber wenn ich mich nun irre – doppelt irre –, und hinter dieser geforderten Maske der Gelassenheit verbirgt sich kein Aufruhr von Gefühlen, sondern das Gegenteil: Gleichgültigkeit? Mit sechzig schaue ich mir meine vielen Freundschaften an und erkenne, dass manche davon jetzt eher Erinnerungen an Freundschaften als wahre Freundschaften sind. (Auch Erinnerungen können Freude bereiten, aber trotzdem.) Natürlich ergeben sich auch neue Freundschaften, aber nicht so viele, um die Furcht zu vertreiben, da könne eine entsetzliche Abkühlung lauern – das emotionale Äquivalent zum Planetentod. Während die Ohren größer werden und die Fingernägel einreißen, schrumpft das Herz. Hier haben wir also wieder ein »Was-wäre-dir-lieber«. Wollen wir lieber mit dem Schmerz sterben, dass wir von denen getrennt werden, die wir seit Langem lieben, oder wollen wir lieber sterben, wenn unser Gefühlsleben sich erschöpft hat, wenn wir die Welt gleichgültig betrachten, gleichgültig gegen andere wie gegen uns selbst? »Keine Erinnerung an einstigen Ruhm / versöhnt mit Missachtung in alten Tagen / oder lässt das Ende leichter ertragen.« Als Turgenew eben sechzig geworden war, schrieb er an Flaubert: »Das ist der Anfang vom Ende des Lebens. Ein spanisches Sprichwort sagt, das letzte Ende ist am schwierigsten zu häuten … Das Leben wird vollkommen ichbezogen und nur noch Kampf gegen den Tod, und durch dieses übertrieben Persönliche hört es auf, interessant zu sein, selbst für die fragliche Person.«
    Nicht nur der Blick in die Grube ist harte Arbeit, sondern auch der Blick auf das Leben. Es fällt uns schwer, die Möglichkeit – geschweige denn die Gewissheit – fest ins Auge zu fassen, dass das Leben nichts als ein kosmischer Zufall ist und sein Hauptzweck reine Selbsterhaltung, dass es sich im leeren Raum entfaltet, dass unser Planet eines Tages in eisiger Stille umhertreiben wird und dass die Menschheit, wie sie sich in all ihrer hektischen und überkonstruierten Komplexität entwickelt hat, völlig verschwinden und niemand sie vermissen wird, denn da ist niemand und nichts, was uns vermissen kann. Das ist der Sinn des Erwachsenwerdens. Und es ist eine furchterregende Aussicht für eine Menschheit, die sich so lange darauf verlassen hat, dass ihre selbsterfundenen Götter ihr Aufklärung und Trost spenden. Richard Dawkins musste sich von einem katholischen Journalisten vorwerfen lassen, er habe die Herzen und Köpfe der Jugend vergiftet: »Geistige Ungeheuer wie Hassegott Dawkie predigen ihr verzweiflungsvolles Evangelium des Nihilismus, der Sinnlosigkeit, der geistigen Leere, der Eitelkeit des Lebens, des Fehlens jeglicher Bedeutung wann und wo auch immer und der, falls Sie dieses nützliche Wort nicht kennen, Floccinaucinihilipilification.« (Das bedeutet »als wertlos erachten«.) Man spürt die Angst, die hinter diesem maßlosen und fehlgeleiteten Angriff lauert. Du musst an das glauben, woran ich glaube – du musst an Gott glauben und an einen Sinn und an die Verheißung des ewigen Lebens –, denn alles andere ist verflucht grauenvoll. Du wärst wie diese Kinder, die des Nachts ängstlich durch den österreichischen Wald gingen. Doch statt des netten Herrn Witters mit seinem Rat, nur an Gott zu denken, wäre da der bestialische alte Biolehrer Dawks, der dich mit Geschichten von Bären und vom Tod erschreckt und dir zur Ablenkung befiehlt, die Sterne zu bewundern.

Flaubert fragte: »Ist es großartig oder dumm, das Leben ernst zu nehmen?« Er sagte, wir sollten der »Religion der Verzweiflung« anhängen und uns »unserem Schicksal ebenbürtig« zeigen, »soll heißen,

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