Nichts, was man fürchten müsste
weiterleben kann. Uns wurde das Wunder des Lebens geschenkt, weil Billionen und Aberbillionen von Lebewesen uns den Weg bereitet haben und dann gestorben sind – in gewisser Weise für uns. Und wir wiederum sterben, damit andere leben können. Im Gleichgewicht der Natur wird die Tragödie des Einzelnen zum Triumph des Fortbestands des Lebens.«
Das alles ist natürlich nicht nur vernünftig, sondern auch klug und geht auf Montaigne zurück (»Mach Platz für andere, wie andere für dich Platz gemacht haben«), und doch kann es mich nicht recht überzeugen. Es gibt keinen logischen Grund, warum der Fortbestand der Menschheit von meinem oder Ihrem oder sonst jemandes Tod abhängen sollte. Es mag ein wenig voll werden auf unserem Planeten, aber das Universum ist leer – LOTS AVAILABLE , wie uns das Friedhofsplakat in Erinnerung ruft. Wenn wir nicht stürben, würde die Welt nicht sterben – im Gegenteil, es wäre noch mehr von ihr am Leben. Und was die Billionen und Aberbillionen von Lebewesen betrifft, die »in gewisser Weise« – der Ausdruck verrät, wie schwach diese Argumentation ist – für uns gestorben sind: Tut mir leid, ich glaube nicht mal, dass mein Großvater »in gewisser Weise« starb, damit ich leben konnte, von meinem »chinesischen« Urgroßvater, vergessenen Ahnen, affenartigen Vorfahren, schleimigen Amphibien und primitiven Schwimmwesen ganz zu schweigen. Und ich sehe auch nicht ein, dass ich sterben soll, damit andere leben können. Oder dass der Fortbestand des Lebens ein Triumph sein soll. Ein Triumph? Das klingt viel zu sehr nach Selbstbeweihräucherung, nach einer Prise Gefühlsduselei, um uns die Sache schmackhafter zu machen. Wenn ich mal im Krankenhaus liege und irgendein Arzt mir erzählt, mein Tod werde nicht nur anderen zum Leben verhelfen, sondern auch ein Zeichen des Triumphs der Menschheit sein, dann werde ich sehr genau hinschauen, wenn er das nächste Mal meinen Tropf einstellt.
Sherwin Nuland, dessen auf allumfassendem Verständnis basierende Vernunft ich nicht akzeptieren mag, kommt aus einem Berufsstand, der, was mich als Laien erstaunt, den Tod noch mehr fürchtet als meiner. Untersuchungen zeigen, dass »die Medizin von allen Berufen am ehesten Menschen mit einer großen persönlichen Angst vor dem Sterben anzieht«. Das ist in einer wesentlichen Hinsicht eine gute Nachricht – Ärzte sind gegen den Tod; weniger gut insofern, als sie womöglich unwissentlich ihre eigenen Ängste auf ihre Patienten übertragen, zu sehr auf der Heilbarkeit beharren und den Tod als Versagen scheuen. Mein Freund D. wurde an einer der Londoner Uni-Kliniken ausgebildet, die traditionsgemäß zugleich als Rugby-Institutionen fungieren. Einige Jahre zuvor hatte es dort einen Studenten gegeben, der zwar regelmäßig durchs Examen fiel, aufgrund seiner Meisterschaft auf dem Rugbyplatz aber immer weiter dort bleiben durfte. Schließlich ließ dieses Können nach, und er musste – ja, wir müssen Platz für andere machen – den Hörsaal wie auch den Sportplatz verlassen. Statt also Arzt zu werden, vollzog er einen Karrierewechsel, der in jedem Roman unglaubwürdig gewirkt hätte: Er wurde Totengräber. Wieder vergingen einige Jahre, und er kehrte ins Krankenhaus zurück, diesmal als Krebspatient. D. erzählte mir, man habe ihn in ein Zimmer ganz oben im Krankenhaus gelegt, und alle hielten sich von ihm fern. Das lag nicht nur an dem entsetzlichen Gestank, den das nekrotische Gewebe seines Rachenkrebses verbreitete; es war der allgemeine Gestank des Versagens.
»Geh nicht gelassen in diese gute Nacht«, rät Dylan Thomas seinem sterbenden Vater (und uns); dann setzt er noch eins drauf und verlangt, man solle »rasen, wenn das Ende lauert«. Aus diesen bekannten Zeilen spricht eher jugendlicher Schmerz (und poetische Selbstbeglückwünschung) als auf klinischem Wissen basierende Weisheit. Nuland sagt klar und deutlich, wie sehr man sich auch einrede, man brauche den Vorgang des Sterbens nicht zu fürchten, sehe man der letzten Krankheit doch mit Furcht entgegen. Gelassenheit – und Heiterkeit – stehen da wahrscheinlich nicht zur Disposition. Nuland meint weiter, die Chancen auf einen Tod, wie wir ihn uns erhoffen (das Kohlköpfe-Szenario), seien verschwindend gering: Die Art, der Ort, die Gesellschaft werden uns enttäuschen. Außerdem widerspricht er der berühmten Fünf-Phasen-Theorie von Elisabeth Kübler-Ross – der zufolge der Sterbende nacheinander eine Phase des
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