Nichts, was man fürchten müsste
Nichtwahrhabenwollens, des Zorns, des Verhandelns, der Depression und endlich der Akzeptanz durchmacht – mit der Feststellung, seiner Erfahrung wie auch der jedes ihm bekannten Klinikers nach kämen manche Patienten zumindest nach außen hin nie über das Stadium des Nichtwahrhabenwollens hinaus.
Vielleicht sind all diese Montaigne’schen Denkmodelle, dieses In-die-Grube-Schauen, dieser Versuch, sich den Tod wenn nicht zum Freund, so doch wenigstens zum vertrauten Feind zu machen – den Tod langweilig zu machen, ja, den Tod selbst mit übermäßiger Aufmerksamkeit zu langweilen –, vielleicht ist all das am Ende doch nicht der richtige Weg. Vielleicht wäre es besser, den Tod zu ignorieren, solange wir leben, und ihn strikt nicht wahrhaben zu wollen, wenn das Ende naht; vielleicht würde uns das helfen, »den Tod zu einem Erfolg zu machen«, um Eugene O’Kellys grotesken Ausdruck zu gebrauchen. Obwohl »es wäre besser« hier natürlich heißen soll, es würde uns zu einem leichteren Leben verhelfen und nicht zu der Erkenntnis von möglichst viel Wahrheit über diese Welt, bevor wir sie verlassen. Was ist nützlicher für uns? Wer in die Grube schaut, kommt sich am Ende womöglich vor wie diese Heldinnen aus den Romanen von Anita Brookner – brav und traurig halten sie sich an die Wahrheit und ziehen dann unweigerlich den Kürzeren gegen die fröhlichen Banausen, die dem Leben nicht nur schamlos mehr Freuden abgewinnen, sondern am Ende auch nur selten für ihren Selbstbetrug büßen müssen.
Ich kann (glaube ich) nachvollziehen, dass das Leben auf den Tod angewiesen ist. Dass wir ohne den vorherigen Tod zusammenbrechender Sterne keinen Planeten haben können; auch dass eine ungeheure Folge evolutionärer Mutationen erprobt und verworfen werden musste, damit komplexe Organismen wie Sie und ich diesen Planeten bewohnen können und ein sich seiner selbst bewusstes und sich selbst reproduzierendes Leben möglich ist. Das sehe ich ein, und wenn ich frage: »Warum widerfährt mir der Tod?«, kann ich die forsche Antwort des Theologen John Bowkers beifällig aufnehmen: »Weil dir das Universum widerfährt.« Nur hat sich mein Verständnis für all das nicht weiterentwickelt – etwa in Richtung Akzeptanz, geschweige denn Trost. Und ich erinnere mich nicht, darum gebeten zu haben, dass mir das Universum widerfährt.
Freunde, die den Tod nicht fürchten und Kinder haben, meinen bisweilen, vielleicht dächte ich anders, wenn ich selbst Vater wäre. Mag sein; und ich sehe ja, wie gut Kinder als die »lohnenden kurzfristigen Sorgen« (und auch langfristigen) funktionieren, die mein Freund G. empfiehlt. Andererseits traf mich das Todesbewusstsein, lange bevor in meinem Leben an Kinder zu denken war; und für Zola, Daudet, meinen Vater und den thanatophobischen G., der seine demografische Quote gleich doppelt erfüllt hat, waren sie auch keine Hilfe. Manchmal machen Kinder alles nur noch schlimmer: So können Mütter sich ihrer Sterblichkeit noch schmerzlicher bewusst werden, wenn die Kinder aus dem Haus gehen – ihre biologische Funktion ist erfüllt, und jetzt verlangt das Universum nichts weiter von ihnen, als dass sie sterben.
Das Hauptargument ist jedoch, dass Kinder ihre Eltern nach deren Tod »fortführen«: Sie werden nicht vollständig ausgelöscht, und dieses vorherige Wissen wirkt auf einer bewussten oder unbewussten Ebene tröstlich. Doch führen mein Bruder und ich unsere Eltern fort? Glauben wir, dass wir das tun – und wenn ja, tun wir es auf eine Art, die auch nur annähernd dem entspricht, »was sie sich gewünscht hätten«? Sicher sind wir beide kein gutes Beispiel. Also nehmen wir einmal an, der unterstellte Intergenerationen-Transfer laufe zur allgemeinen Zufriedenheit ab und Sie gehören zu einer seltenen Gruppe sich gegenseitig liebender Generationen, die jeweils die Erinnerung, die Tugenden und Gene des Vorgängers erhalten wollen. Wie weit erstreckt sich eine solche »Fortführung«? Über eine Generation, über zwei oder drei? Was passiert in der ersten nach Ihrem Tod geborenen Generation, die keine Erinnerung an Sie haben kann und für die Sie reine Folklore sind? Werden Sie von der auch fortgeführt, und weiß sie, dass sie das tut? Um es mit dem großen irischen Short-Story-Autor Frank O’Connor zu sagen: Bei Folklore kommt nie etwas Rechtes raus.
Ob meine Mutter Zweifel an der Art und Weise bekam, wie ich sie fortführen würde, als ich meinen ersten Roman veröffentlichte, in
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