Nichts, was man fürchten müsste
dem sie mit unflätigen Ausdrücken »bombardiert« wurde? Ich glaube kaum. Mein nächstes Buch war ein unter Pseudonym geschriebener Thriller mit einem erheblich höheren Gehalt an Unflat, darum riet ich meinen Eltern von der Lektüre ab. Doch meine Mutter ließ sich nicht abschrecken und vermeldete prompt, an manchen Stellen seien ihr »die Augen aus dem Kopf getreten wie Huthaken in der Kirche«. Ich erinnerte sie an meine Warnung vor Risiken und Nebenwirkungen. »Tja«, antwortete sie, »man kann ein Buch ja nicht einfach im Regal stehen lassen.«
Ich bezweifle, dass sie ihre zwei Söhne als die künftigen Fuhrknechte der Familienerinnerungen ansah. Sie selbst bevorzugte den Blick zurück. Am liebsten hatte sie uns – wie die meisten anderen Kinder – im Alter von etwa drei bis zehn Jahren. Alt genug, um keine »Hundestall-Sauerei« mehr anzurichten, aber noch vor den vielschichtigen Unverschämtheiten der Pubertät oder gar dem Gleichziehen und schließlich Überholen des Erwachsenenalters. Natürlich konnten mein Bruder und ich nicht verhindern – es sei denn durch einen tragischen frühen Tod –, dass wir die banale Sünde begingen, erwachsen zu werden.
Im Radio hörte ich, wie eine Bewusstseinsexpertin erläuterte, dass es weder ein physisches noch ein errechenbares Zentrum des Gehirns gibt, keinen Ort für das Ich; und dass unser Begriff Seele oder Geist durch den Begriff eines »gestreuten neuronalen Prozesses« ersetzt werden muss. Wie sie weiter darlegte, stammt unser Moralgefühl daher, dass wir als Menschheit ein System des wechselseitigen Altruismus entwickelt haben; dass das Konzept der Willensfreiheit als »Treffen bewusster Entscheidungen von einem kleinen inneren Ich« verworfen werden muss; dass wir Maschinen sind, die Kultursegmente kopieren und weitergeben; und dass es »richtig unheimliche« Folgen hat, wenn man das alles akzeptiert. Zunächst einmal bedeutet es, wie sie sich ausdrückte, dass »diese Worte, die in diesem Moment aus diesem Mund kommen, nicht von einem kleinen Ich in meinem Innern ausgehen, sondern vom ganzen Universum, das einfach seine Arbeit macht«.
Camus hielt das Leben für sinnlos – »absurd« war tatsächlich der bessere Ausdruck, reichhaltiger in seiner Charakterisierung unserer einsamen Stellung als Wesen »ohne vernünftigen Daseinsgrund«. Doch er meinte, solange wir da seien, müssten wir uns trotzdem Regeln schaffen. Weiter sagte er, »was ich über Moral und die Aufgaben des Menschen am sichersten weiß, das verdanke ich dem Sport« – vor allem dem Fußball und seiner Zeit als Torwart bei Racing Universitaire in Algier. Das Leben als Fußballspiel mit willkürlichen, aber notwendigen Regeln, denn ohne Regeln kann das Spiel einfach nicht gespielt werden, und wir würden nie die Momente der Schönheit und Freude erleben, die der Fußball – und das Leben – uns schenken kann.
Als ich diesen Vergleich entdeckte, jubelte ich wie ein Fan auf der Stadiontribüne. Ich war ebenfalls Torwart, wie Camus, wenngleich kein ganz so berühmter. Bei meinem allerletzten Spiel trat ich für den New Statesman gegen die Slough Labour Party an. Das Wetter war ekelhaft, der Torraum eine einzige Schlammgrube, und ich hatte keine anständigen Stiefel. Nachdem ich fünf Tore durchgelassen hatte, ging ich vor lauter Scham nicht mehr in den Umkleideraum und fuhr durchnässt und bedrückt, wie ich war, direkt in meine Wohnung zurück. Was ich an dem Nachmittag über soziales und moralisches Verhalten in einem gottlosen Universum lernte, stammte von zwei kleinen Jungs, die sich hinter meinem Tor herumtrieben und kurz meine ungezielten Bemühungen begutachteten, die Slough Labour Party aufzuhalten. Nach ein paar Minuten meinte einer der beiden gehässig: »Der im Tor ist wohl ’ne Aushilfe.« Manchmal sind wir nicht nur Dilettanten im ei genen Leben, sondern müssen uns auch noch wie Ersatzspieler vorkommen.
Camus’ Metapher ist inzwischen überholt (und nicht nur deshalb, weil der Sport eine Zone zunehmender Unehrlichkeit und Unehrenhaftigkeit geworden ist). Aus dem Reifen der Willensfreiheit ist die Luft raus, und die Freude am schönen Spiel des Lebens ist nichts als ein Beispiel für kulturelle Kopierleistungen. Nicht mehr: Um uns herum ist ein gottloses und absurdes Universum, also stecken wir das Spielfeld ab und pumpen den Ball auf. Stattdessen: Es gibt keine Trennung zwischen »uns« und dem Universum, und die Vorstellung, wir würden uns als eigenständige
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