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Nichts, was man fürchten müsste

Nichts, was man fürchten müsste

Titel: Nichts, was man fürchten müsste Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julian Barnes , Pößneck GGP Media GmbH
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ebenso gleichmütig«. Er wusste, was er vom Tod hielt: »Ob das Ich weiterlebt? Das zu bejahen, scheint mir ein bloßer Widerschein unserer Vermessenheit und unseres Stolzes zu sein, ein Aufstand wider die ewige Ordnung! Vielleicht hat der Tod uns nicht mehr Geheimnisse zu enthüllen als das Leben.« Doch während er der Religion misstraute, hatte er großes Verständ nis für spirituelle Regungen und stand militantem Atheismus skeptisch gegenüber. »Alle Dogmen sind mir ihrem Wesen nach zuwider«, schrieb er. »Doch sie entspringen einem Gefühl, das ich für einen höchst natürlichen und poetischen Ausdruck der Menschlichkeit halte. Ich mag die Philosophen nicht, die das als törichten Humbug abtaten. Ich entdecke darin Notwendigkeit und Instinkt. Darum bringe ich dem schwarzen Mann, der seinen Fetisch küsst, ebenso viel Respekt entgegen wie dem Katholiken, der vor dem Herz Jesu niederkniet.«
    Flaubert starb 1880 , im selben Jahr wie Zolas Mutter. Es war kein Zufall, dass Zola in dem Jahr vom réveil mor tel getroffen wurde. Damals war er vierzig (somit habe ich ihm in der Beziehung etwas voraus). In meiner Erinnerung hatte ich mir immer ausgemalt, er werde wie ich aus dem Schlaf in schreiende Angst katapultiert. Doch das war ein selbstherrlicher Versuch, ihn mir gleichzumachen. In Wirklichkeit war er dabei wach; er und seine Frau Alexandrine lagen nebeneinander, beide von Todesangst um den Schlaf gebracht und beide zu scheu, das zuzugeben; nur das Flackern eines Nachtlichts bewahrte sie vor der völligen Finsternis. Dann riss es Zola aus dem Bett – und der Bann war gebrochen.
    Der Schriftsteller wurde auch von einer fixen Idee zu einem bestimmten Fenster in seinem Haus in Medan beherrscht. Nach dem Tod seiner Mutter hatte sich die Treppe als zu schmal und gewunden für den Sarg erwiesen, darum mussten die Sargträger ihn durch das Fenster herablassen. Wann immer Zola dann an diesem Fenster vorüberkam, starrte er es unverwandt an und überlegte, wessen Leichnam wohl als Nächster diesen Weg nehmen würde – seiner oder der seiner Frau.
    Diese Auswirkungen des réveil mortel offenbarte Zola am Montag, dem 6 . März 1882 bei einem Essen mit Daudet, Turgenew und Edmond de Goncourt, der alles mitschrieb. Diese vier, die nach Flauberts Tod von dem ursprünglichen Dîner des Cinq übrig geblieben waren, sprachen an dem Abend über den Tod. Daudet hatte das Thema aufgebracht; er gab zu, für ihn sei der Tod eine Art Zwangsvorstellung geworden, die ihm das Leben so weit vergifte, dass er in keine neue Wohnung einziehen könne, ohne automatisch nach der Stelle zu suchen, wo man seinen Sarg aufstellen würde. Zola legte sein Geständnis ab, dann war Turgenew an der Reihe. Dem galanten Moskauer war der Gedanke an den Tod ebenso vertraut wie den anderen, doch er hatte eine Methode, damit umzugehen: Er wischte ihn so weg – und demonstrierte das mit einer kleinen Handbewegung. Die Russen, erläuterte er, könnten Dinge in einem »slawischen Nebel« verschwinden lassen, den sie zum Schutz vor logischen, aber unerfreulichen Gedankengängen herbeizauberten. Wenn man etwa in einen verheerenden Schneesturm gerate, denke man bewusst nicht an die Kälte, denn sonst würde man erfrieren. Dieselbe Methode lasse sich mit Erfolg auch auf das übergeordnete Thema anwenden: Man wich ihm so aus.
    Zwanzig Jahre danach starb Zola. Was er einst als belle mort gepriesen hatte – plötzlich wie ein Insekt unter einem Riesenfinger zerquetscht zu werden –, war ihm nicht beschieden. Stattdessen bewies er, dass ein Schriftsteller noch eine weitere Möglichkeit hat, sich »beim Sterben treu zu bleiben«. Man kann sich beim Sterben menschlich oder literarisch treu bleiben. Manche schaffen beides, wie man an Hemingway sieht, der zwei Patronen in sein Lieblingsgewehr (Marke Boss, made in England, erworben bei Abercrombie & Fitch) schob und sich dann die Läufe in den Mund steckte.
    Zola blieb sich beim Sterben literarisch treu; es war eine psycho-melodramatische Szene, die seiner frühen Werke würdig gewesen wäre. Er war mit Alexandrine aus dem Haus mit dem bedrohlichen Fenster nach Paris zurückgekehrt. Da es ein kühler Tag Ende September war, ließen sie sich im Schlafzimmer ein Feuer anzünden. Während ihrer Abwesenheit waren Arbeiten am Dach des Wohnhauses durchgeführt worden, und was dann geschah, kann der Leser interpretieren, wie es ihm beliebt. Der vom Schlafzimmer abgehende Schornstein war verstopft worden, sei es weil

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