Nichts Weißes: Roman (German Edition)
Entdeckungen: die Ile de Ré; die Dünen nördlich von Kopenhagen; der Comer See, mit eigenem Steg und Motorboot; zuletzt eine Kate mit Garten auf dem Rücken Cornwalls. Wie weit man auch gefahren war, schnell folgten Krethi und Plethi, wie Petrus den wachsenden Stamm der Konsumenten zu bezeichnen pflegte. Nicht, dass ihn das gestört hätte. Es durfte gern Trend werden, was man selbst bereits kannte. Die Skiferien hatten die Schullers aufgegeben, als Linus geboren wurde; eine Neujahrsmesse im Kölner Dom war stattdessen Ritual geworden.
Im November 1973 – sonntags Totenstille hinter dem Lärmschutzwall aufgrund eines Fahrverbots – schwärmte Petrus von einer amerikanischen Kampagne für Olivetti. Es war das erste Mal, dass Brad Kilip & Partner eine New Yorker Agentur ausstechen konnten, und dafür waren Petrus und Oberholtzer alle zwei Wochen »drüben«.
»Wieso«, sagte er zu Lore, »ein Flugzeug braucht kein Öl, das tankt Kerosin.« Am dritten Advent kam er wieder einmal zurück, die Pomona 133 erleuchtet wie Bethlehem, und ließ wissen, dass die amerikanische Kampagne eingetütet wäre, als Sahne auf dem Kuchen eine Einladung des stellvertretenden Vertriebsdirektors von Olivetti in dessen ungenutztes Haus bei Miami.
»Haben die nicht schrecklich heiße Sommer?«, fragte Lore.
»Nicht im Sommer, Darling. Jetzt!«
Der Tannenbaum bei Miami war dann künstlich eingeschneit, und eine Kette winziger Lichter blinkte in metallischen Farben. Er fand sich etwas verloren in der Ecke eines hölzernen Wohnzimmers einer kleinen Villa in einer Sackgasse, die am Strand endete, mit sieben weiteren, eng aneinandergerückten Villenminiaturen, die sich ähnelten. Linus stand so still vor dem blinkenden Baum, dass man hätte glauben können, er gehöre zum Arrangement. Marleen und Cristina verbrachten den ganzen Tag am Strand, Johanna hatte sich gleich am 24. einen Sonnenbrand geholt. So blieb sie in ihrem Zimmer und las ein drittes Mal Momo . Am langen Esstisch hatte sie sich den Platz gegenüber von Papa ausgesucht, wo sie kerzengrade saß und alle Anwesenden strafte, indem sie ihren Anspruch auf Rudelführerschaft plötzlich aufgab, ausgedrückt durch hartnäckiges Schweigen.
Ihre Eltern hatten keinen Grund gesehen, sie in die Katechismuslehre zu geben, bevor sie danach fragte, so dass sie schon im zehnten Lebensjahr war, als sie angemeldet wurde. Petrus, der einst das Katholikentum für ein Lebensschicksal gehalten hatte, sprach nun von der »K-Religion«; er war wenig geneigt, Johanna dem »ollen Popen« mitzugeben. Wie alle anderen Dinge des Lebens – das Zähneputzen, die Schönschrift, das Puppenhausdekor – nahm Johanna die katholische Lehre ernst und, soweit es möglich war, wörtlich, und damit sienicht ein Wort in der Zwischenzeit vergaß, hatte sie sowohl den Katechismus als auch das Neue Testament in Florida dabei, wo sie, weil es keinen Nachttisch gab, ihr Königinnenbett mit den Büchern teilte, die Momo -Lektüre morgens und abends gerahmt von den Todsünden.
Das Fehlen dreier Neusser Gottesdienste allein an den Weihnachtstagen sowie der Neujahrsmesse im Kölner Dom stellte Johanna als Fall von Deprivation dar, auch wenn sie das Wort nicht kannte. Man hatte ihr das Kostbarste genommen und durch anderes ersetzt: Strand, Kino, Vergnügungspark. Da stand sie vor der Raketenschleuder und zog einen Flunsch, während Marleen und Cristina zum Mond fuhren und sich vor Lachen nicht mehr halten konnten, indem sie sich unaufhörlich zuriefen: »Nicht im Sommer, Darling, jetzt!«
Petrus merkte es erst in diesem Winter, aber Lore war schon früher aufgefallen, wie Johanna frömmelte. Sie fragte sich, ob Johanna dem Papa damit gefallen wollte, schließlich war es seine Konfession. Es zeigte sich jedoch, dass Petrus’ Versuch, auf das Kind Einfluss zu nehmen – routiniertes Interesse, unterlegt von Spott –, zu dem unerwünschten Ergebnis führte, dass Johanna ihrer Sache nur noch sicherer wurde. Sie fieberte ihrer Erstkommunion entgegen, ein Ereignis, das ihr Vater »Kinderkommunion« nannte, aber die Tochter belehrte ihn, mit der Erstkommunion sei man kein Kind mehr, sondern ein vollgültiges Mitglied der heiligen Römischen Kirche. Das sollte im April stattfinden, und es klang so, als wollte Johanna sich danach zurückziehen von allen weltlichen Dingen. Die Pomona 133 aber war voll davon: Citroëns und Super 8, Mikrowelle und Whirlpool, Donna Summer und Fred Feuerstein. Ihr Expansionsdrang unterschied die
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