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Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Nichts Weißes: Roman (German Edition)

Titel: Nichts Weißes: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ulf Erdmann Ziegler
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Schullers von anderen Familien. Das Neue war immer besser als das Alte, das Ferne besser als das Nahe. Quirlige Ferienbekanntschaften waren nörgelnden Verwandten vorzuziehen. Das Neusser Schützenfest blieb ein Kuriosum, gewiss nicht der Höhepunkt des Jahres wie für viele Bürger dieser Stadt. Die Pomona 133 war eine Hochburg des Fortschritts. Es gab dort keine Pokale und keinen in Holz geschnitzten Sinnspruch. Und wenn, dann hätte er gelautet: Don’t look back!
    Niemand wurde gezwungen mitzuziehen, aber die Verlockungen waren beträchtlich. Marleens Einführung in den Luxus und die Moden erfolgte noch in der Grundschulzeit. Das ganze zweite Schuljahr hatte sie eine Brille tragen müssen, die auf der rechten Seite mit einem Milchglas blind gemacht worden war. Nur schwer hatte die Mama sie hinwegtrösten können über das, was andere Kinder ihr hinterherriefen. Im Herbst 1973, nach der Rückkehr aus Cornwall, war das Ende der Maßnahme gekommen. Eine letzte Fahrt mit Papa im rostigen Alfa zur Augenklinik in Düsseldorf, danach in die Altstadt: eine vornehm erleuchtete Halle ausschließlich brillentragende Optiker mit vornehmen langen Händen, die immer neue Gestelle auf ledergepolsterten Tischchen präsentierten. Dort ließ man sie die durchsichtigen und die silberdrahtgerahmten Brillen probieren, mit denen sie aussah wie die kleine Ausgabe einer Sekretärin. Erst vorsichtig, dann bestimmter lenkte sie der Optiker zu den rehbraunen Gestellen, von den zarten zu den kräftigeren, von den rehbraunen zu den perlmuttschimmernden und anthrazitfarbenen, bis sie die tropfenförmige Rodenstock im Gesicht hatte, eine Brille, die ihr etwas Eulenartiges gab und dabei lustig aussah, und um die Entdeckung zu feiern, hatte Petrus plötzlich die alte Kassenbrille parat, die sie noch einmal aufsetzte, ein Auge verdeckt durch das Milchglas, den Tränen nahe, und dann wieder die Rodenstock, da war die Sache klar; Abholung mit Ultraleichtgläsern, nämlich aus Plastik, übermorgen. An jenem Tag, nach der Schule, nahm sie die S-Bahn, vom Düsseldorfer Hauptbahnhof die Straßenbahn, ganz allein. In derAgentur wurde sie als Früchtchen aus der Pomona launig vorgeführt. Im Anschluss mit dem Taxi in die Altstadt. Anpassung der Brille am lederbezogenen Tischchen, ein halbes Dutzend Komplimente vom Optiker, 135 Deutsche Mark aus Papas schwerem Lederportemonnaie, danach ins Carschhaus, einmal hoch und wieder runter, über die Heinrich-Heine-Allee zu US-World, wo Petrus ihr eine knackige Levi’s verpasste und dazu ein weinrotes Sweatshirt von Fruit-of-the-Loom.
    In der Schule saß Marleen an ihrem Pult und tat so, als bemerkte sie nicht, wie ihr neuer Banknachbar sie anstarrte. Ingolf hieß der. Am Ende der Stunde verschwand die Brille in einem violetten Kästchen mit dem rennenden Männchen in Gold, das eigentlich ein »R« war. Sie nahm sich, während die Schulkameraden an ihr vorbei in die Pause strömten, durchaus Zeit für diese Prozedur, inklusive Putzen der Gläser, das sollten die ruhig mal sehen.
    Ingolf war ein stämmiger Bursche mit apfelroten Wangen und dunklen Locken, die ihm bis über die Ohren wuchsen. Die ersten acht Jahre seines Lebens hatte er in einer Stadt verbracht, die sich Marleen als Blumenstadt in ewiger Blüte vorstellte.
    »Du kommst aus Astora, nä?«
    »Nee, aus Hamburg, wieso?«
    »Du hast zu Relindis gesagt, du kommst aus der Astora. Oder Dastora.«
    »Aus der Diaspora.«
    »Wo ist denn die Diastora?«
    In Hamburg-Winterhude waren die Häuser hoch und grau gewesen, die Straßen dunkel, meistens war es Nacht. Immer regnete es. Auf den Straßen waren Banden unterwegs, Protestanten mit blondem Haar und dicken Fäusten. Man konnte kaum von der Schule bis nach Hause kommen, ohne verprügelt zu werden. Sie zwangen einen, in Hundescheiße zu tretenund riefen dann »Iiih, kock ma, ’n Kathole, der stenkt!« Der Zahn, der Ingolf fehlte, hatte wohl auch damit zu tun. Das deutete er so an. Diaspora.
    Schließlich war sein Vater, Flugzeugingenieur, nach Düsseldorf »gerufen« worden – das »Rufen« stellte Marleen sich vor als eine Durchsage per Lautsprecher –, und die Familie hatte sofort ein Haus in Neuss gekauft, eine Stadt, in der es zwar auch Protestanten gab, wie Ingolf wusste, aber »hier könn’ die ei’m nichts anhaben«. Den Katecheseunterricht in Hamburg zu beginnen hatte »sich nicht mehr gelohnt«, und seine Eltern fanden, er solle es nicht überstürzen. So würde er damit im folgenden Jahr in St.

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