Nichts Weißes: Roman (German Edition)
Pius beginnen. Die Kirche hatte er sich schon einmal angesehen. Sie gefiel ihm nicht wirklich, weil sie zu lutherisch aussah. Später, nach der Erstkommunion, als Mini in St. Quirinus zu dienen war sein eigentliches Ziel. Dort wolle er sich dann vom Weihbischof firmen lassen. Marleen wusste nicht genau, was er meinte, wagte aber nicht zu fragen. Wollte er so eine Art Priester werden?
Johanna und ihre Kombattantinnen wurden getreue Katecheseschülerinnen der Pfarre Heilige Dreikönige, deren Kirche so alt war wie der Pfarrer selbst, doppelt weltkriegserprobt, während die nächste Welle aus der Pomona nach St. Pius schwemmte, wo Marleen, Ingolf und die anderen in einem modernen Gebäude vom Kaplan Valentin empfangen würden als die, die sie waren, nämlich Kinder. Die Kinder flochten Kränze zu Erntedank. Sie bastelten Kometenlaternen für den herbstlichen Umzug. Sie würden die Geschichten aus der Bibel so nacherzählen, wie sie ihnen in Erinnerung geblieben waren. Wenn Kaplan Valentin vom Papst erzählte, würde dieser leuchtend erscheinen wie der Weihnachtsmann, weise wie Paulus und demütig wie ein Samariter. Die Kinder bewunderten den Kaplan, weil er den Papst so gut kannte, er hatte mit ihm selbst Abendbrot gegessen oder so.
In der Schule gab es keine böse Bemerkung über die Eulenbrille, was vielleicht daran lag, dass Marleen jetzt so ganz anders wirkte, und das konnte durchaus zu tun haben mit diesem Ingolf, dem Neuen, den man auf gut Glück neben sie gesetzt hatte. Dem fremden Jungen war sein Haar zu einer gewaltigen Wattekugel gewachsen, mit einem kastanienbraunen Schimmer. Marleen war überzeugt, dass nur sie ihn sah, den Schimmer, begünstigt durch die neue Brille.
Aus der dritten Reihe gab es Beschwerden. Ein kleiner bebrillter Ömmes, Sohn eines Innenstadtnotars, behauptete, ihm sei die Sicht auf die Tafel durch Ingolfs »Zottelhaar« versperrt. Am nächsten Tag wiederholte er das, in gestelzten Worten. Ingolf bestand darauf, er habe nicht vergessen, zum Friseur zu gehen. Schließlich konnte man ein Duo aus der letzten Reihe bewegen, in die zweite zu ziehen, so dass Ingolf und Marleen sich im hintersten Winkel des Klassenraums wiederfanden.
»Was ist das für eine Hose?«, flüsterte er.
»Pluh-Tschiens.«
»Woher?«
»Ju-Ess-Wörld in Düsseldorf.«
»Teuer?«
»Weiß nicht.«
Die Woche drauf trug er auch Pluh-Tschiens. Marleen verlor darüber kein Wort. Sie mochte ihn und alles, was er besaß. Er trug einen Winteranorak mit Pelzkranz in der Kapuze. Seine Schuhe waren aus rotbraunem Leder. Sein Schulranzen hatte Verschlüsse, die im Dunkeln leuchteten. Sein Schreibwerkzeug ordnete er nicht einzeln in ein Etui, sondern warf alles in einen länglichen Lederbeutel. Sein Radiergummi war ein wässrigweißer Block, der nach Früchten roch. Darauf abgebildet war ein Dackel in Orange, Korngelb, Grasgrün, Lila und Himmelblau, auf der Rückseite die Spirale der Olympischen Spiele aus dem Jahr zuvor. Den Gummi lieh Marleen sich beim Rechnen jeden Tag, zehnmal in der Stunde, und schnüffelte dran. Dann lag er zwischen ihnen wie ein Talisman. Die tragischen Spiele, aber die Farben der Zukunft. Schließlich hatte Ingolf ein Einsehen.
»Kannste haben.«
»Nee.«
»Warum nicht?«
»Weiß nicht.«
»Stell dich nicht so an!«
Jetzt besaß sie etwas, das roch, und es hatte mit Ingolf zu tun. Wenn niemand in der Nähe war, durfte sie ihm sogar in die Haare fassen. In diesen Tagen wachte sie auf und fand sich schwebend. Zum Glück war aus dem Scharnier der Brille eine Schraube verschwunden, so dass der Papa sie noch einmal nach Düsseldorf kommen ließ:
»Kann ich mit Ingolf?«
»Wer ist denn Ingolf?«
Die Aufmerksamkeit im Kleinen war noch nie der Väter Stärke; ein Mann wie Petrus kümmerte sich lieber um große Kampagnen. Am nächsten Tag würde er ein Flugzeug nach Amerika besteigen.
Um eins saßen die beiden auf hohen roten Hockern und teilten sich eine Pizza, im Rücken die Altstadt und vor sich das große Fenster, vor dem die Straßenbahnen spektakulär um die Ecke bogen, eine nach der anderen. Sie zählten die Passanten mit Pluh-Tschiens und fanden, das wären aber ganz schön viele. Sie waren nicht allein in dem Gewimmel und Getöse.
Marleen bemühte sich, ihren Stolz zu verbergen, als sie den Jungen mit dem Wattehaar über die riesigen Zebrastreifen der Königsallee unter der aufgebockten Straße hinweg in den offenen und lauten Teil der Schadowstraße lenkte, wo sie dann vor einem Haus aus
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