Nick aus der Flasche
Sie strahlten etwas Unheimliches aus, das ihm ein Frösteln einbrachte. Keiner sonst schien die zahlreichen Toten zu bemerken, niemand beachtete sie. Als ob sie spürten, dass er sie erkannte, starrten sie ihn an, ließen ihn jedoch in Ruhe.
Nachdem sie an der Anmeldung gefragt hatten, auf welchem Zimmer Emma lag und ob sie sie besuchen dürften, eilten sie durch die langen kahlen Korridore. Julie lief neben ihm, die Tüte mit den Keksen sowie eine kleine Sonnenblume an ihre Brust gedrückt, und schaute auf die Zimmernummern. »Wir müssen bis zum Ende des Ganges.«
»Hm.« Nick machte einen Schritt zur Seite und zog Julie mit sich, um nicht in eine armlose Frau hineinzulaufen, die blutüberströmt durch den Flur strich. Niemals würde er das eiskalte Schauergefühl vergessen, als er durch Solomon gesprungen war.
»Was hast du denn?« Sie warf ihm einen verwunderten Blick zu.
Vielleicht war es an der Zeit, ihr die Wahrheit zu sagen. »Ich kann Tote sehen.«
»Was?« Beinahe lief sie gegen einen leeren Rollstuhl, der neben einer Tür abgestellt worden war.
»Geister. Sie sind überall.« Tief atmete er durch und verzog die Nase, weil es nach Desinfektionsmitteln roch. »Vorsicht, hier steht auch einer.«
Er zog sie auf die andere Seite des Ganges, weg von dem Mann, dessen halber Körper mit Brandblasen überzogen war. Die Kleidung hing ihm in verschmorten Fetzen vom Körper.
»Ich seh die zum Glück nicht, sonst würde ich mir in die Hose machen.« Hektisch schaute sie sich um, die Augen ängstlich aufgerissen. »Seit wann kannst du das?«
»Wohl schon immer, nur bei Solomon bin ich ja nicht aus dem Haus gekommen. Erst wusste ich auch nicht, dass ich Geister sehe, zumindest war ich mir nicht sicher, doch als Solomon mit mir gesprochen hat …«
»Er hat was?« Sie packte ihn am Arm und stolperte beinahe über ihre Füße. »Wann war das? Und warum hast du nichts erzählt?«
»Das war heute Nachmittag, als ich das Geld aus seinem Haus geholt habe. Er wollte, dass ich bei ihm bleibe, doch er hat keine Macht mehr über mich.«
Julie nahm seine Hand. »Oh Gott, Nick, hast du denn keine Angst gehabt?«
»Ich bin fast gestorben«, sagte er leise und senkte den Blick. »Was, wenn Emma stirbt und wir daran schuld sind?«
Sanft drückte sie seine Finger. »Ich habe dasselbe gedacht. Aber jetzt lass uns erst mal zu ihr gehen und mit ihr reden. Vielleicht hat sie nichts Schlimmes, immerhin dürfen wir zu ihr.« Die Frau an der Anmeldung hatte ihnen nicht gesagt, was Emma fehlte, hatte nur wissen wollen, ob sie zur Familie gehörten. Und da Emma keine Verwandten hatte, soweit Nick wusste, hatte er sich einfach als ihr Neffe ausgegeben.
Vor Zimmernummer 357 blieben sie stehen. Dort drin lag sie.
Er setzte die Sonnenbrille und das Kappy auf, das Julie vor der Abfahrt aus Connors Zimmer geholt hatte. »Und du meinst echt, sie erkennt mich damit nicht?«
»Das weiß ich nicht. Kannst du dein Äußeres magisch verändern?«
»Soll ich mir eine Knollnase herbeiwünschen?«
»Eine Knollnase nicht unbedingt«, erwiderte sie schmunzelnd, »aber … Kannst du dich in ein Mädchen verwandeln?«
»Nein, Danke, ich fühle mich in meinem Körper ganz wohl.« Bei seinen magischen Geschicken blieb er vielleicht für immer ein Mädchen, das Risiko wollte er nicht eingehen. Er stellte sich schwarze Haare an sich vor und dass er ein wenig kleiner war, korpulenter, und schnippte, doch nichts geschah. »Ich kann nicht, ich bin einfach viel zu aufgeregt!« Es machte ihn rasend, dass er so ein miserabler Dschinn war, außerdem wollte er endlich ins Zimmer.
»Dann halte dich einfach im Hintergrund und lass mich reden.«
Falls sie Emma nicht gerade mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt hatten, würde seine Verkleidung wohl nicht helfen. Es lag zwar ein halbes Jahrhundert zwischen ihnen, aber Nick kannte doch sein schlaues Mädchen.
Sein Herz erwärmte sich, als er an früher dachte, zugleich zog es sich zusammen. Dort drin befand sich nicht mehr seine Emma, sondern eine alte Frau, nur wollte er das immer noch nicht begreifen.
Als Julie anklopfte und langsam die Tür öffnete, hielt Nick die Luft an. Zuerst erblickte er gelb gestrichene Wände, dann das Bett, in dem Emma lag oder beinahe saß, denn das Kopfteil war nach oben gestellt. Sie hatte ein Einzelzimmer mit einem großen Fenster, durch das die Abendsonne strahlte und den Raum in ein orangefarbenes Licht tauchte.
Emma ließ eine Zeitschrift sinken und ein Lächeln huschte
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