Nick aus der Flasche
bekommen. Dabei hatte sie Mrs. Warren kennengelernt. Die alte Dame war beinahe eine Ersatzoma für sie.
»Mrs. Warren!«, rief Julie und betrat das Grundstück. »Sie sollen doch nicht so schwere Sachen tragen.«
»Oh, Hallo!« Lächelnd überreichte ihr Mrs. Warren den Karton. »Danke dir, aber das war ohnehin der letzte.«
»Puh, was ist denn da drin?« Der Karton wog gefühlte hundert Kilo!
»Flaschen«, sagte Mrs. Warren, während sie Julie zum LKW begleitete. Schweißtropfen glitzerten auf ihrer faltigen Stirn und ihre Hände zitterten. Ob es an der Hitze lag? An diesem Nachmittag brannte die Maisonne gnadenlos. Zum Glück begannen bald die Ferien. Julie freute sich riesig darauf! Sie würde mit Martin abhängen, faul sein, ans Meer fahren, süße Jungs in Badehosen anschmachten …
Mrs. Warren seufzte.
»Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«, fragte Julie, als sie den Karton auf die Laderampe des Umzugswagens stellte.
Stirnrunzelnd blickte Mrs. Warren in den Wagen. »Ich hatte nur gehofft …«
»Was?«
Sie wirkte verwirrt, doch dann sagte sie plötzlich: »Es ist alles okay.«
Julie schielte über das verrostete Türchen in den Vorgarten, wo ein Nachbar Mr. Solomon tot vorgefunden hatte. »War er ein Trinker? Ist er deshalb gestürzt?«
Mrs. Warren lächelte müde. Schatten zeichneten sich unter ihren blassblauen Augen ab. »Nein, er hatte einen Schlaganfall.« Sie öffnete den Karton, damit Julie hineinsehen konnte.
»Wow, das sind aber schöne Flaschen.« Die unterschiedlich großen Flakons und Phiolen aus Glas und Metall schimmerten in sämtlichen Farben.
»Diese möchte ich dir schenken.« Mrs. Warren griff hinein und zog eine silberfarbene Flasche heraus, die in der Sonne grün und blau schillerte. Sie besaß einen runden Bauch und einen langen Hals. Verziert war sie mit Schnörkeln, Gravuren und Mustern sowie hellblauen Steinen, die wie Türkise aussahen. Ein tränenförmiger Stöpsel steckte im Hals und eine Kette wand sich vom Verschluss bis zur bauchigen Mitte. Alles in allem wirkte die Flasche sehr orientalisch.
Dankend nahm Julie sie entgegen. »Die ist ja wundervoll!« Sie schüttelte die Flasche, doch sie schien nicht gefüllt zu sein. Dennoch fühlte sie sich schwer an. Und warm. Wahrscheinlich lag das an der Sonne.
»Ich glaube, das ist echtes Silber«, sagte Mrs. Warren leise und schaute über ihre Schulter zur offenen Haustür. Geräusche drangen aus dem Gebäude. Jetzt waren wohl die Möbelpacker an der Reihe.
»Aber das kann ich nicht annehmen, die ist bestimmt wertvoll.« Die Wohltätigkeitsorganisation könnte viel Geld dafür bekommen, um damit armen Leuten zu helfen.
»Nimm sie, bitte. Ich habe das Gefühl, dass du sie erhalten sollst.« Mrs. Warren nahm ihr die Flasche ab und steckte sie kurzerhand in Julies Rucksack. »Du hast mir in den letzten Jahren so oft geholfen, da ist das das Mindeste. Und es muss ja keiner erfahren.« Schmunzelnd zwinkerte sie ihr zu und schloss den Karton. »Das ist heute ohnehin mein letzter Einsatz. Meine müden Knochen machen das nicht mehr mit.«
»Fehlt Ihnen etwas?« In den letzten Wochen schien Mrs. Warren abgebaut zu haben. Sie war dünner geworden und humpelte leicht.
»Ach, Schätzchen, in meinem Alter fehlt einem so ziemlich alles.«
Julie räusperte sich. Sie wollte nicht zu indiskret werden und fragte schnell: »Mr. Solomon war wohl ein Antiquitätensammler?«
»Möglich. Du hättest mal sehen sollen, was für kuriose Sachen noch in seinem Haus standen.« Ihr Blick wirkte entrückt, als würde sie erneut mit den Gedanken woanders sein, doch dann lächelte sie und wünschte Julie ein schönes Wochenende.
* * *
»Wo warst du so lange? Dein Bus ist schon vor fünf Minuten vorbeigefahren«, begrüßte ihre Mutter sie vom Herd aus, als sie die Küche betrat. Mom war meistens hier anzutreffen, denn sie liebte es zu backen und zu kochen, daher klebte auch Mehl in ihrem braunen Haar.
Lanzelot, der grau-weiß gestreifte Familienkater, strich um Julies Beine und empfing sie mit einem Maunzen, bevor er zu seinem Napf eilte. Das moppelige Vieh war so verfressen, dass es Futter Streicheleinheiten vorzog.
»Mrs. Warren hat mich aufgehalten. Sie räumt mit ihrem Verein das Haus von Mr. Solomon aus. Er hatte keine Angehörigen und alles geht an die Wohlfahrt.«
»Tatsächlich?« Hektisch wischte sich Mom die Hände an einem Geschirrtuch ab und klemmte sich eine Haarsträhne hinters Ohr, bevor sie zum Fenster eilte. Das war typisch
Weitere Kostenlose Bücher