Nick aus der Flasche
ihnen auf einem Stuhl gegenübersetzte und Nick endlich ihr Gesicht erblickte, wusste er sofort, dass das seine Emma war.
Seine Finger krallten sich in den Stoff. Julie hielt die Tasche so, dass er über die Tischplatte lugen konnte. Die alte Dame besaß unverkennbar Emmas Gesichtszüge, ihre blauen Augen, die schmalen Brauen und die gerade Nase. Ihre Lippen waren dünner geworden und ihre Wangen wirkten ein wenig eingefallen. Trotz der Falten um ihre Augen und Mundwinkel raste Nicks Herz, und für den Bruchteil einer Sekunde sah er nicht die alte, sondern die junge Emma vor sich.
Tränen trübten seine Sicht. Wenn er nur die Zeit zurückdrehen könnte – er würde niemals zu Mr. Solomon gehen und Emma nie mehr loslassen. Ein ganzes Leben lag hinter ihr, das an Nick fast spurlos vorbeigegangen war. Doch auch wenn er es geschafft hätte, irgendwie von Solomon freizukommen, wäre sie trotzdem schneller gealtert als er. Eine gemeinsame Zukunft wäre wohl unmöglich gewesen, ihre Beziehung nur eine Partnerschaft auf Zeit; aber vielleicht hätten sie wenigstens zwanzig Jahre lang glücklich sein können.
Wenn er in die Vergangenheit zurück könnte und nur einen Tag mehr mit ihr bekäme – er würde jede Strapaze auf sich nehmen.
»Was führt dich her, Julie?«, fragte Emma und lächelte. »Du siehst flott aus, hast du noch was vor?«
»Ja, wir … ich gehe noch auf eine Party.« Sie räusperte sich. »Doch weshalb ich gekommen bin … also … Ich habe da eine Frage.«
»Nur raus damit, Schätzchen. Du kannst mich alles fragen.« Sie schob Julie einen Teller mit Keksen hin, aber sie lehnte dankend ab. Nick hätte gern gewusst, wie Emmas Plätzchen schmeckten.
»Ich hatte gestern, als Sie mir die Flasche gegeben hatten, das Gefühl, dass Sie durcheinander waren. Und das das etwas mit Mr. Solomon zu tun hatte.«
Emma starrte sie für mindestens zehn Sekunden an und sagte nichts.
»Mrs. Warren?«, fragte Julie vorsichtig, während Nick am liebsten auf den Tisch gesprungen wäre, um sie aufzurütteln.
Emma seufzte. »Vielleicht wird es Zeit, dass ich dir die Geschichte erzähle, auch wenn ich Gefahr laufe, dass du mich danach für verrückt hältst.«
»Bestimmt nicht.«
Ihre Geschichte! Nicks Puls raste, und er zuckte zusammen, als Emma plötzlich aufstand.
»Möchtest du etwas trinken? Ich brauche zuerst dringend einen kräftigen Schluck schwarzen Tee. Für dich einen mit Zitrone?«
»Nein, ich …« Als Julies Blick auf Nick fiel und er heftig nickte, damit Emma länger fortblieb, sagte sie schnell: »Tee mit Zitrone hört sich toll an.«
Sobald Emma im Haus verschwunden war, krabbelte Nick aus der Tasche. »Ich muss auf deine Schulter!«
»Nick«, zischte sie und schaute sich um. »Wenn sie dich sieht!«
»Ich hab so viele Fragen, die du ihr stellen musst. Bitte!«
»Das ist zu riskant, weil sie direkt vor mir sitzt.« Erneut drehte sich Julie um. »Aber ich habe eine Idee. Ich stelle meine Tasche gleich neben meinem Kopf auf die Lehne der Bank, dann kannst du mir was zuflüstern.«
»Prima!« Nick kletterte zurück und ließ sich samt Tasche auf das breite Polster der Rückenlehne stellen. »Könntest du mir bitte einen Keks reichen?«
»Du bist ganz schön verfressen für deine zwanzig Zentimeter.« Grinsend hielt sie ihm einen hin. »Und brösel mir nicht auf mein Handy.«
»Ja, meine herzallerliebste Herrin.« Mm, wie der Teig duftete. Nach Mandeln und Butter. Lecker. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen, noch bevor er hineingebissen hatte. Er zog sich zurück und setzte sich in die Tasche, um im Halbdunkeln mit geschlossenen Augen Emmas köstlichen Keks zu genießen. Backen konnte sie, das musste er ihr lassen.
Als er den Riesenkeks verdrückt hatte und sein Magen spannte, kam Emma zurück, zwei Tassen in der Hand.
»Vorsicht, der ist noch ganz heiß.«
»Danke schön.«
»Na gut, dann möchte ich dich nicht länger auf die Folter spannen«, sagte Emma und setzte sich wieder. Sie verschränkte die Finger vor dem Bauch und starrte in ihre Tasse. »Weißt du, ich habe nicht immer hier gelebt. Eigentlich komme ich aus New York.«
»Und was hat Sie nach Prince’s Bay getrieben?«, fragte Julie.
Flüchtig schaute Emma auf und antwortete: »Nick.«
»Nick?« Julies Stimme zitterte und er war bei der Erwähnung seines Namens zusammengezuckt, aus Angst, Emma hätte ihn gesehen.
»Nicolas Tate. Er war meine große Liebe.«
Nick schloss die Augen. Sie hatte ihn nicht vergessen! Und er war ihre
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