Nick aus der Flasche
»Grad noch mal gut gegangen«, sagte er. »Aber es war ganz schön knapp.«
»Ich hätte die Tür zumachen sollen. An Lanzelot habe ich überhaupt nicht gedacht! Das wird nicht wieder passieren. Versprochen.«
Sie sorgte sich um ihn. Das tat so gut.
»Doch Connor hat deine Flasche und er rückt sie nicht raus.«
Nick setzte sich auf. »Das macht nichts, ich kann spüren, wo sie ist. Wir holen sie uns später.«
Ein Lächeln huschte über ihre Lippen. »Ja, wir sollten jetzt los.« Sie hielt ihre Umhängetasche auf und deutete hinein.
Vehement schüttelte er den Kopf. »Ich mach mich nie wieder klein, das ist mir zu gefährlich.«
»Und wie soll ich dich rausschmuggeln? Oder wie willst du denn mit zu Emma kommen? Sie darf dich nicht sehen!«
Emma … Er musste zu ihr.
»Ich passe auf dich auf, ganz großes Ehrenwort. Ich werde dich nicht aus den Augen lassen, solange du klein bist.«
Kapitel 6 – Emmas Geschichte
Nick hatte sich von Julie breitschlagen lassen, sich klein zu machen, und saß in ihrer Tasche. Julie hatte sie in den Fahrradkorb am Lenker gestellt, damit Nick hinausschauen konnte. Der warme Fahrtwind wehte durch sein Haar und strich über sein Gesicht. Die Sonne strahlte, es duftete nach frisch gemähtem Gras – Nick sog alle Eindrücke in sich auf und genoss sein neues Leben.
Sie fuhren durch Straßen und Siedlungen, die sich alle ähnelten, weshalb er schon bald nicht mehr wusste, ob er zurückfinden würde. Doch da gab es ja immer noch dieses schwache Gefühl in ihm, dieses Gespür für seine Flasche, die ihm stets die Richtung weisen würde. Dennoch wollte er sich den Weg zu Emma gerne merken und versuchte, sich alle Straßennamen einzuprägen. Vielleicht könnte er sie dann heimlich öfter besuchen. Nur diese seltsamen Erscheinungen am Straßenrand irritierten ihn. An einer Kreuzung stand eine blutüberströmte Frau, ein kleines Mädchen an der Hand, das einen blutigen Teddybären hielt. Als sie an ihnen vorbeifuhren, drehte die Frau den Kopf und starrte sie an. Waren das womöglich Geister? Tote Menschen, die noch auf dieser Welt verweilten? Und warum sah bloß er sie? Julie zeigte keinerlei Regung, daher versuchte er, diese Erscheinungen fortan zu ignorieren.
»Alles in Ordnung?«, fragte Julie, wobei sie sich so weit zu ihm beugte, dass sie ihm einen Blick in ihren Ausschnitt gewährte. Auch ihr kurzer Rock war durch das Treten ein wenig höhergerutscht und entblößte ihre Oberschenkel. Nick gefiel die Aussicht, wollte aber keinesfalls, dass andere Jungs auch in diesen Genuss kamen.
»Alles bestens!«, rief er ihr zu. »Wann sind wir da?«
»Dort vorne wohnt sie.«
Er klammerte sich an den Rand der Tasche und schaute angestrengt über die Straße. Ja, er konnte es sehen, dieses seltsame, bunte Blumengebilde im Vorgarten eines weißen Hauses. Es handelte sich um eine geschmiedete Sonnenblume, deren Blütenblätter alle eine andere Farbe hatten, wie ein Regenbogen. Die Blütenmitte bildete das bekannte Hippiesymbol.
Das kannte er, davor hatte Nick bereits gestanden, als ob er Emmas Nähe instinktiv gespürt hätte. Und jetzt erinnerte er sich auch wieder, dass sie ein Bild gezeichnet hatte, das genau diese Blume zeigte! Schon im Heim hatte sie kleine Skulpturen entworfen und gebastelt, und die Sonnenblume hatte es ihr als Motiv angetan.
Julie parkte das Rad am Zaun und hob vorsichtig ihre Tasche mitsamt Nick in die Arme. Dabei lugte er unter der Stofflasche hervor, damit ihn niemand entdeckte.
»Also, brav bleiben, Kleiner«, sagte sie und drückte auf den Klingelknopf, über dem in geschwungener Schrift »Warren« stand.
Nicks Magen zog sich zusammen, weil ihm wieder bewusst wurde, dass Emma einen anderen Mann geheiratet hatte.
Als sich kurze Zeit später die Tür öffnete, hielt er die Luft an.
»Hallo, Julie, komm rein«, hörte er eine freundliche Frauenstimme.
Sein Herz raste. War das Emmas Stimme? Er konnte es nicht sagen.
Zuerst traute sich Nick nicht, nach oben zu sehen, und schaute auf eine dunkelblaue Stoffhose. Dann auf eine helle Bluse.
Mrs. Warren ging voran, sodass Nick sie nur von hinten erkannte. Die alte Dame war schlank und ging leicht gebückt. Ihr graues Haar hatte sie zu einem kunstvollen Knoten aufgesteckt.
Sie folgten ihr durch einen düsteren, kühlen Flur in den hinteren Garten hinaus, wo auf einer Wiese ein kreisrunder Tisch stand. Dort hockte sich Julie auf eine gepolsterte Bank, die Tasche in ihrem Schoß. Als sich Mrs. Warren
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