Nick Stone - 03 - Verbrannte Spuren
nicht allzu weit hinter der Kurve auf der Narva-Seite.
Dort stand wider Erwarten kein Wohnblock, sondern ein großes altes Haus, das jetzt eine »Baar« war. Zumindest verkündete das eine weiße, aber nicht eingeschaltete Leuchtschrift über der angefaulten hölzernen Haustür. Von der Fassade war der Rauputz teilweise abgefallen und ließ rotes Ziegelmauerwerk sehen. Im Vergleich zu den gleichförmigen Plattenbauten, von denen es auf drei Seiten umgeben war, wirkte das zweistöckige alte Haus wie ein Fremdkörper. Die meisten Fenster im ersten und zweiten Stock waren mit den innen angebrachten Fensterläden verrammelt; Vorhänge waren nirgends zu sehen. Eine weitere, ebenfalls nicht eingeschaltete Leuchtreklame zeigte einen Mann, der sich mit einer Zigarette im Mundwinkel über einen Billardtisch beugte und ein Bierglas neben sich stehen hatte.
Laut dem Schild 10-24 h neben dem Eingang hätte die »Baar« offen haben müssen. Ich versuchte die Haustür zu öffnen und stellte fest, dass sie abgesperrt war.
Vor dem Haus parkten vier Wagen. Ich sah einen nagelneuen knallroten Audi und zwei Cherokees, die bessere Tage gesehen hatten - beide blau und mit russischen Kennzeichen. Das vierte Auto befand sich - abgesehen von dem Autoskooterwagen - im schlechtesten Zustand von allen Fahrzeugen, die ich bisher in Estland gesehen hatte. Es war ein mit der Hand gestrichener roter Lada, der einem Teenager gehören musste. Auf der Ablage unter dem Heckfenster waren Lautsprecher aus hiesiger Produktion montiert, aus denen Kabel wie Spaghetti heraushingen. Sehr cool, vor allem
der Stapel alter Zeitschriften auf dem Rücksitz.
Ich sah durch die verdreckten Fenster im Erdgeschoss, ohne irgendwo Licht zu sehen oder einen Laut zu hören. Als ich nach hinten ging, konnte ich im zweiten Stock einen Lichtschein erkennen, der von einer einzelnen Glühbirne zu stammen schien. Das war, als hätte ich Leben auf dem Mars entdeckt.
An der verrottenden Haustür drückte ich auf den Klingelknopf der Sprechanlage neben dem Schild mit den Öffnungszeiten. Das Haus mochte so verfallen wie Toms Apartmentgebäude sein, aber die Sprechanlage befand sich in besserem Zustand. Allerdings konnte ich nicht feststellen, ob sie wirklich funktionierte, deshalb versuchte ich’s noch mal - diesmal etwas länger. Der Lautsprecher rauschte und knackte, dann hörte ich eine halb aggressive, halb gelangweilte Männerstimme, die mich etwas fragte. Da ich natürlich keinen blassen Schimmer hatte, was der Kerl von mir wollte, sagte ich: »Konstantin. Ich will zu Konstantin.«
Ich hörte die estnische oder russische Entsprechung von »Hä?«, dann murmelte er noch etwas, und im Hintergrund waren laute Stimmen zu hören. Als er sich wieder meldete, knurrte er etwas, das sich offenbar mit »Verpiss dich, Idiot!« übersetzen ließ. Das Rauschen und Knacken verstummte; ich war abgewimmelt worden.
Ich klingelte nochmals, weil ich vermutete, wenn er sauer genug sei, werde er an die Haustür kommen, um mich wegzujagen. Das würde mir wenigstens die Chance geben, hier weiterzukommen. Die Stimme meldete sich wieder und brüllte etwas, das ich nicht verstand; ich konnte mir denken, was sie sagte, wiederholte aber trotzdem mein Anliegen.
»Konstantin? Konstantin?«
Die Sprechanlage verstummte wieder. Ich wusste nicht, ob sich nun etwas ereignen würde, blieb aber vorsichtshalber auf meinem Posten vor der Haustür.
Nach ungefähr zwei Minuten hörte ich, wie hinter der Tür Riegel aufgezogen wurden. Als die Tür dann aufgestoßen wurde, trat ich rasch zur Seite. Dahinter befand sich eine geschlossene Gittertür, hinter der ein Jüngling von 18 oder 19 Jahren stand, der aussah, als habe die Design-Fee sich an ihn angeschlichen und mit ihrem Zauberstab berührt, um ihn in ein Mitglied einer Straßenbande in Los Angeles zu verwandeln. Er war bestimmt der Besitzer des Ladas.
»Sprechen Sie englisch?«
»Jo! Du suchst Konstantin?«
»Yeah, Konstantin. Ist er da?«
Er grinste breit. »Klar ist er das - er steht vor dir, Mann. Du bist der Kerl aus England, stimmt’s?«
Ich nickte lächelnd und beherrschte mich, um nicht laut über seine Bemühungen zu lachen, seine Sprechweise seiner Aufmachung anzupassen. Das war aussichtslos - vor allem wegen seines russischen Akzents.
Konstantin strahlte mich an, während er mich von Kopf bis Fuß begutachtete. »Okay, dann komm rein, schicker Junge.« Er hatte Recht: Meine Klamotten sahen nicht gerade wie frisch aus der Reinigung
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