Nick Stone - 03 - Verbrannte Spuren
sie Arbeiterwohnsilos hineingequetscht, ohne sich darum zu kümmern, unter welchen Bedingungen die Menschen dort hausen mussten. Ich hatte schon genug gesehen, um zu wissen, dass Narva ein elendes, heruntergekommenes Nest war. Die neuesten Gebäude schienen aus den siebziger Jahren zu stammen, und selbst sie verfielen bereits.
Ich ging auf der rechten Straßenseite weiter. Der Verkehr war schwach und bestand nur aus einzelnen Lastwagen und Sattelschleppern mit russischen Kennzeichen, die an mir vorbeibrausten. Fahrbahn und Gehsteige waren mit einer schwarzen Schmiere bedeckt, auf der Schneematsch, den die schweren Fahrzeuge reichlich verspritzten, in dicker Schicht angefroren war.
Weihnachten war in Narva noch nicht angekommen. Ich fragte mich, ob es sich hier jemals bemerkbar machen würde. Es gab keinen Straßenschmuck, keine bunten Lichter, nichts auch nur entfernt Festliches, auch nicht in den Fenstern. Ich kam an trostlosen Läden vorbei, in deren Auslagen alles von gebrauchten Waschmaschinen bis zu Arnold-Schwarzenegger-Videos angeboten wurde.
Als ich weiterging, kam ich zu einem kleinen Lebensmittelmarkt. Das Gebäude war alt, aber aus dem Geschäft fiel das hellste Neonlicht, das ich bisher gesehen hatte, auf den mit Eis bedeckten Gehsteig. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, dort einzukaufen, zumal ich seit meinem Schoko-und-Wurst- Frühstück, das längst verdaut war, nichts mehr gegessen hatte.
Links neben dem Eingang lag ein zerlumpter Mann im Schutz des Vordachs auf einem flachgedrückten Pappkarton. Sein Kopf und seine Hände waren in Lumpen gewickelt; sein Gesicht war dunkel vom
Schmutz, der tief in den Poren saß, und in seinem Bart hätte er Gemüse züchten können. Neben ihm stand eine umgekehrte Tomatenkiste, auf der ein alter Schraubenzieher mit Holzgriff und eine rostige Kombizange lagen - beide offenbar zu verkaufen. Er machte sich nicht die Mühe, zu mir aufzusehen, als ich vorbeiging. Vermutlich sah ich so aus, als hätte ich selbst genug verrostetes Werkzeug.
Der Laden war exakt so ausgelegt wie ein Spar- Lebensmittelmarkt in einer englischen Kleinstadt. Sogar das Warenangebot war teilweise identisch: Colgate- Zahnpasta, KP-Nüsse und Gilette-Rasierschaum. Das restliche Angebot war jedoch mehr als kümmerlich und bestand hauptsächlich aus Bier in Sixpacks und verschiedenen Wurstsorten, die in der Kühltheke in Reihen ausgelegt waren, damit das Angebot reichhaltiger aussah.
Ich legte eine Großpackung Kartoffelchips, zwei Packungen Käsescheiben und fünf Stangensemmeln in meinen Einkaufskorb. Mit Getränken hielt ich mich nicht auf, denn ich hoffte, bei Konstantin bald etwas Warmes zu trinken zu bekommen. Außerdem gab es hier außer Bier und Halbliterflaschen Wodka nur irgendwelche zweifelhaften Limonaden. Ich verzichtete vorläufig auch darauf, Ersatz für mein gekauftes Waschzeug oder wenigstens eine Zahnbürste zu kaufen. Das hatte Zeit bis später; außerdem wollte ich Estland möglichst schnell wieder verlassen, und hierzulande schienen die Leute ohnehin nicht viel von persönlicher Hygiene zu halten.
An der Kasse nahm ich mir zwei Plastiktüten, steckte eine Packung Käsescheiben und zwei Stangensemmeln in die eine und packte meine restlichen Einkäufe in die andere. Beim Hinausgehen stellte ich die kleinere Tüte neben den Alten auf den Pappkarton. Ich hatte ihm keine Kartoffelchips gekauft, denn wie hätte er sie ohne Zähne kauen sollen? Ich wusste, wie es war, bei dieser Kälte stundenlang im Freien zu liegen.
Meine Hände waren wieder in den Jackentaschen vergraben, und die Plastiktüte baumelte so an meinem rechten Handgelenk, dass sie rhythmisch gegen den Oberschenkel schlug, als ich weiterging. Ich machte einen Bogen um einen Hochspannungsmast, der halb auf dem Gehsteig, halb auf dem von einer Mauer umgebenen Gelände einer kleinen Fabrik stand, und sah vor mir weitere Reihen elender Mietskasernen, wie ich sie schon vom Zug aus gesehen hatte. Die Wohnblocks trugen keine Namen, sondern nur mit Schablonen aufgebrachte Nummern. Zumindest das hatten die Sozialwohnblocks, in denen ich aufgewachsen war, dieser Siedlung vorausgehabt: dort waren alle Gebäude nach Ortsnamen aus Chaucers Canterbury Tales benannt gewesen. Ansonsten waren sie sich recht ähnlich: verrottende hölzerne Fensterrahmen und mit Paketband zugeklebte Sprünge in den Fensterscheiben. Das erinnerte mich daran, warum ich mir schon als Neunjähriger vorgenommen hatte, alles zu tun, um möglichst
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