Nick Stone - 03 - Verbrannte Spuren
Der ganze Krempel fiel mir wieder vor die Füße. Ich war eben dabei, das Seil für einen erneuten Versuch zu entwirren, als Autoscheinwerfer über die Mauer vor mir hinwegglitten.
Ich sank auf die Knie und machte mich bereit, mich in den Schnee einzugraben. Dann merkte ich, dass ich auf den Knien liegend bereits darin eingegraben war.
Die Scheinwerfer wurden heller, verschwanden dann für eine halbe Sekunde, als das Fahrzeug durch eine Bodenwelle fuhr, und leuchteten kurz in Richtung
Himmel, bevor sie wieder über die Schneefläche
huschten. Als sie näher kamen, erhellten sie das Innere der Halle, deren Stahlträger sich bewegende Schatten warfen.
Das dumpfe Röhren eines schweren Dieselmotors
verriet, dass ein Lastwagen oder Sattelschlepper in meine Richtung unterwegs war. Also konnte ich erleichtert aufatmen: Hatte die Maliskija es auf mich abgesehen, 568
würde sie wohl kaum mit einem Massey Ferguson
vorfahren.
Das Motorengeräusch wurde lauter und das
Scheinwerferlicht noch heller, als in der Lücke zwischen Halle und Betonmauer ein Traktor erschien. Er sah wie ein Überbleibsel aus einer sowjetischen Kolchose aus, und in seinem Fahrerhaus drängten sich weit mehr
Silhouetten zusammen, als eigentlich darin Platz gehabt hätten. Vielleicht war die hiesige Dart-Mannschaft ins Hammer & Sichel unterwegs, um sich ein paar Wodkas zu genehmigen.
Als Licht und Motorenlärm schwächer wurden, machte ich mich wieder an die Arbeit. Nach dem dritten Versuch segelte das Palettenteil endlich über die Mauer, während das Seilende mit den Sprengladungen sicher unter
meinen Stiefeln verankert blieb. Das Seil ruckte, als das Gegengewicht seinen Flug beendete – vermutlich ein bis zwei Meter über dem Boden. Ich zog es langsam zu mir herunter und wartete auf den kleinen Widerstand, der anzeigen würde, dass das Palettenteil die jenseitige Mauerkrone erreicht hatte. Der Ziegelstein als
Gegengewicht würde die Planke so an die Mauer
drücken, dass sie sich unter der überspringenden Krone verhakte. Aus genau diesem Grund sind
Gefängnismauern oben abgerundet, damit solche
komischen Geräte keine Chance haben, sich unter der Krone zu verankern. MI9 hatte es wieder mal geschafft!
Ich hielt das Seil straff, rechnete fast damit, dass der ganze Krempel jeden Augenblick von oben
herunterkommen und mir auf den Kopf fallen würde, und 569
belastete es langsam mit meinem ganzen Gewicht. Das billige Nylonseil dehnte sich knirschend, aber es hielt.
Ich stemmte meine Füße gegen die Mauer, nutzte
Vertiefungen in dem groben Beton als Tritte, hielt mich an den Seilknoten fest und begann den Aufstieg.
Ich brauchte nicht lange, um die fast einen Meter breite Mauerkrone zu erreichen, und wälzte mich hinauf, um erst einmal zu rasten. Der große Bau vor mir
verdeckte das Zielgebäude fast ganz; ich sah nur den Widerschein des Lichts, das aus einem der Fenster fiel, im Schnee. Das stetige Brummen des Stromaggregats bildete jetzt ein Hintergrundgeräusch.
Eine Lawine aus Schnee und Eis ging von der Mauer nieder, als ich mich auf dem Bauch liegend umdrehte, bis ich wieder nach draußen sah. Während meine Beine auf der Innenseite der Mauer herabhingen, fing ich an, vorsichtig die Sprengladungen herauszuziehen. Nicht etwa die Geräusche, die dabei entstanden, machten mir Sorgen, sondern ich wollte sie auf keinen Fall
beschädigen.
Als ich die Sprengladungen endlich oben hatte, drehte ich mich wieder um und ließ sie vorsichtig auf der anderen Seite hinab. Jetzt musste ich nur das Holz auf der Außenseite der Mauerkrone verankern, um auf der
Innenseite am Seil absteigen zu können.
Ich hielt das Seil straff und umklammerte es mit den Beinen, als meine Hüften über die Kante rutschten. Dann belastete ich das Seil mit meinem ganzen Gewicht und kletterte so schnell wie möglich hinunter.
Unten häufte ich Schnee über die Sprengladungen,
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damit das Gegengewicht sie unter keinen Umständen für mich unerreichbar zur Mauerkrone hinaufziehen konnte.
Das Seil musste unbedingt an Ort und Stelle bleiben, während ich rasch das Zielgelände erkundete; vorläufig eröffnete es mir den einzigen Fluchtweg.
Auf dem Boden war das Brummen des Stromaggregats
merklich lauter – ausreichend laut, um das Knirschen meiner Stiefel auf Eis und unberührtem Schnee zu
übertönen, als ich auf die verrostete Eisentür in der Mauer zustapfte. Ich holte meine Taschenlampe heraus und knipste sie an. Aus der Streuscheibe, die ich fast ganz
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