Nick Stone - 03 - Verbrannte Spuren
sonst hätte sagen sollen.
Er hustete und zitterte. »Ja, aber meine Beine sind echt kalt, Nick. Ich spüre meine Füße nicht mehr.« Ein kurzes Zögern. »Aber wir kommen durch, stimmt’s? Ich meine, du kennst dich mit diesem Outdoor-Scheiß aus, nicht wahr?«
Ich nickte. »Die Marschiererei ist beschissen, Tom, aber du musst durchhalten. Umbringen tut sie uns nicht.«
Das war gelogen. »Weißt du noch, was ich gesagt habe?
Träumen, mehr brauchst du nicht zu tun. Stell dir vor, wie’s morgen um diese Zeit sein wird … das kannst du, nicht wahr?« Die vereiste Pelzumrahmung seiner Kapuze 629
bewegte sich auf eine Weise, die ich für ein
zustimmendes Nicken hielt. »Wir erreichen bald eine Straße, auf der wir dann viel leichter vorankommen.«
»Und dort halten wir ein Auto an?«
Ich gab keine Antwort. Ein gut geheiztes Auto wäre himmlisch gewesen, aber wer würde so verrückt sein, bei diesem Wetter nachts unterwegs zu sein?
Ungefähr 20 Minuten später erzielten wir einen
Teilerfolg. Ich konnte keinen Asphalt sehen, aber unter dem Neuschnee Reifenspuren erkennen, und merkte
natürlich, dass der Schnee hier nicht mehr so hoch lag wie überall sonst. Dies war nur eine schmale Landstraße, aber das spielte keine Rolle. Sie konnte ausreichen, uns das Leben zu retten.
Ich hüpfte ein paar Mal auf der Stelle, um mich davon zu überzeugen, dass ich Recht hatte. Tom brauchte lange, um zu mir aufzuschließen, und als er endlich herankam, merkte ich, dass sein Zustand sich verschlechtert hatte.
»Wir sind auf einer Straße, Tom. Jetzt beginnt eine neue Phase, aber erst wollen wir ein bisschen hüpfen, damit uns wieder warm wird.« Ich versuchte, das Ganze als Spiel hinzustellen, und er machte halbherzig mit.
Dass er geweint hatte, lag noch nicht lange zurück.
Jetzt verfiel er in Sarkasmus. »Wir haben nicht mehr weit, nehme ich an.«
»Nein, überhaupt nicht mehr weit.«
Wir begannen Strecke zu machen und kauerten uns an Straßenkreuzungen zusammen, um den Kompass zu
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schützen. Jede Straße, die nach Nordost, Nordwest oder sogar genau nach Westen führte, war uns recht. Wichtig war nur, dass wir allgemein in Richtung Tallinn und Bahnlinie unterwegs waren.
Nach etwa drei Stunden hatte sich Toms Marschtempo dramatisch verlangsamt. Ich musste immer öfter anhalten und auf ihn warten. Der Kampf durch den Schnee und die extreme Kälte hatte ihn schwer mitgenommen, und er konnte gar nicht mehr aufhören zu zittern.
Er bettelte mich an. »Nick, ich kann nicht mehr. Vor meinen Augen dreht sich alles, Kumpel. Bitte, wir müssen irgendwo unterkriechen.«
Der Wind trieb uns Schnee ins Gesicht.
»Tom, wir müssen weiter. Das verstehst du, nicht
wahr? Sonst sind wir erledigt.«
Seine einzige Reaktion war ein Stöhnen. Ich zog seine Kapuze etwas auseinander, damit er mich sehen konnte.
»Tom, sieh mich an!« Ich legte eine Hand unter sein Kinn. »Wir müssen weiter. Du musst mir helfen, indem du in Bewegung bleibst, okay?« Ich hob sein Kinn noch höher, um ihm in die Augen sehen zu können. Aber dafür war es zu dunkel, und meine Augen begannen im Wind zu tränen.
Es war zwecklos, irgendeine vernünftige Reaktion von ihm zu erwarten. Durch dieses Herumstehen vergeudeten wir Zeit und verloren das bisschen Wärme, das noch in unseren Körpern steckte. Jetzt und hier konnte ich nichts tun, um Tom zu helfen. Wir mussten die Bahnlinie finden und dann versuchen, den nächsten Bahnhof zu erreichen.
Ich konnte nicht genau abschätzen, wie viele Kilometer 631
wir noch zu marschieren hatten, aber wir mussten dieses Ziel erreichen. Ich würde merken, wann Tom wirklich nicht mehr konnte; dann war es Zeit, anzuhalten und etwas zu unternehmen.
Ich packte ihn am Arm und zog ihn mit, »Du musst
dich zusammenreißen, Tom.«
Wir stolperten weiter – ich mit gesenktem Kopf, er fast teilnahmslos. Das war kein gutes Zeichen. Beginnt der Körper an Unterkühlung zu leiden, reagiert sein zentraler Thermostat darauf mit einer Verringerung der
Wärmezufuhr zu den Gliedmaßen. Dann beginnen Hände und Füße steif und gefühllos zu werden. Sinkt die Kerntemperatur noch weiter, kühlt auch der Kopf ab, der Herzschlag verlangsamt sich und das Gehirn wird nicht mehr ausreichend mit Sauerstoff und Zucker versorgt.
Wirklich gefährlich ist dabei die Tatsache, dass man nicht erkennt, was mit einem vorgeht, weil Unterkühlung einem als Erstes den Überlebenswillen raubt. Man hört zu zittern auf, man hört auf, sich Sorgen
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