Nick Stone - 03 - Verbrannte Spuren
plötzlich lebhaft klingender Stimme. »Das hat Liv schon alles erledigt.«
Er blieb stehen, drehte sich um und tippte sich mit einem Zeigefinger an die Stirn. »Nö, im Ernst, alles was ich brauche, ist hier drinnen. Willst du den genauen Ablauf hören?«
»Nicht nötig. Ich konzentriere mich nur darauf, wie wir dort rein- und rauskommen. Aber was suchst du dort eigentlich?«
Tom grinste. »Das weiß ich erst, wenn ich’s sehe.«
Als er verschwunden war, leerte ich die Kartons und Tragetaschen auf dem Fußboden aus. Als Erstes sortierte ich die Kleidung, weil sie sich am schnellsten überprüfen ließ. Für dieses Unternehmen konnten wir keine
Bomberjacken aus glänzendem Nylongewebe brauchen; ich hatte Liv aufgetragen, nur Sachen aus Wolle und dicker Baumwolle zu kaufen. Wir brauchten dunkle
Kleidungsstücke, die nicht raschelten und kein Licht zurückwarfen – etwa durch Metallknöpfe oder
reflektierende Sicherheitsstreifen. Alle Klettverschlüsse an Taschen oder Taschenklappen trennte ich mit meinem Leatherman heraus: Klettverschlüsse machen beim
Aufreißen ziemlichen Lärm, der uns im Haus verraten konnte. Und ich schnitt auch alle Zuziehschnüre ab. Ich durfte nicht riskieren, irgendwo im Haus hängen zu bleiben und zu Boden gerissen zu werden. Das alles mag übertrieben vorsichtig klingen, aber ich hatte erlebt, wie Leute wegen noch belangloserer Dinge den Tod
gefunden hatten.
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Liv hatte nicht nur zwei Paar warme Vlieshandschuhe, sondern auch ein Paar dünne Baumwollhandschuhe
gekauft, damit ich an dem Vorhängeschloss oder anderen Metallgegenständen arbeiten konnte, ohne dass meine bloßen Finger festfroren. Für mich hatte sie ein Paar Laufschuhe mitgebracht, aus deren Absätzen ich die reflektierenden Sicherheitsstreifen herausschnitt. Tom brauchte keine; er hatte seine Segeltuchschuhe. Wir würden sie anziehen, kurz bevor wir das Haus betraten.
Schwere Stiefel machen Lärm, schleppen Schnee ins Haus und hinterlassen Spuren. Die Außenwelt musste draußen bleiben.
In einer Plastiktüte fand ich sechszöllige Nägel, eine Rolle zweieinhalb Zentimeter breites Nylongurtband und eine Hand voll großer Unterlegscheiben. Die Kanthölzer hatten exakt die von mir angegebenen Maße. Ich musste unwillkürlich grinsen, als ich mir Liv als Kundin in einem Heimwerkershop vorstellte. Sie hatte vermutlich nicht einmal gewusst, dass es solche Geschäfte gab.
Zu dem Werkzeug, das Liv gekauft hatte, gehörte auch eine handliche kleine Metallbügelsäge in einer
Blisterpackung mit Kartonrücken. Ich riss sie aus der Packung und benutzte sie, um die Kanthölzer in ein Dutzend Stücke von etwa 15 Zentimeter Länge zu
zersägen.
Liv hatte gut eingekauft; die Unterlegscheiben passten über die sechszölligen Nägel und wurden von den
Nagelköpfen aufgehalten. Auf jeden Nagel kamen zwei, weil sie stark auf Zug belastet werden würden.
Eine Viertelstunde später lagen sechs etwas über
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faustgroße Holzklötze vor mir, durch die ich jeweils einen Nagel getrieben hatte. Jeden Nagel hatte ich mit einer Zange etwa in der Mitte spitzwinklig abgebogen, so dass das Ganze an den Haken eines Schauermanns
erinnerte. Das freiliegende Metall des Nagels war mit Gummiband umwickelt; damit es im Einsatz nicht
klapperte. Tom und ich würden mit jeder Hand einen Haken benutzen und einen dritten als Reserve mitführen.
Von dem dunkelgrünen Nylongurt schnitt ich vier zwei Meter lange Stücke ab, die ich an den Enden verknotete, so dass vier Trittschlingen entstanden. Ich legte sie mit den Haken auf die Seite, um sie von dem Chaos um mich herum zu trennen. Unsere Kletterausrüstung war fertig.
Liv hatte Recht: die alten Methoden sind manchmal die besten, und diese Methode war altbewährt. Sie war ein kleines Juwel aus den Akten von MI9, der im
Zweiten Weltkrieg den Auftrag erhalten hatte, neue Hilfsmittel zu entwickeln, mit denen Kriegsgefangene aus Lagern flüchten und sich zu den eigenen Linien durchschlagen konnten. Die Geheimdienstler erfanden auf Seide gedruckte Landkarten, die zwischen die
Schichten einer Spielkarte passte und in Rotkreuzpaketen in die Lager geschickt werden konnte. Sie änderten sogar den Schnitt der RAF-Uniformen, damit sie sich leichter in Zivilkleidung verwandeln ließen. Die Kombination aus Haken und Trittschlingen gehörte zu den vielen
Hilfsmitteln, mit denen Kriegsgefangene Lagerzäune hatten überwinden sollen. Bei ihnen hatte diese Methode funktioniert; ich hoffte, dass sie auch
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