Nicodemus
Bewusstsein – nicht zwangsläufig ein Mensch – als Avatara zu benutzen. In diesem Zusamenhang wird auch erwähnt, dass der Zauber die Fähigkeit besitzt, seinem Objekt eine Sprache durch unmittelbeuren Kontakt »einzuprägen«. Im neosolaren Pantheon war das Ätzen mit einem Tabbu belegt. Die große Göttin Solmay untersagte es jeder Gotthiet, die diesen Zauber praktisierte, über den Ozean in unsere Welt zu reisen. Wir können lediglich spekulieren, dass zum Zeitpunkt des Exodus bereits der Seelenspaltzauber als Alternative zur Verfügung stand.
Da der Seelenspaltzauber der einzig uns bekannte Gotteszauber ist, bei dem das Objekt einwlligen muss, darf davon ausgegangen werden, dass das Ätzen
auch auf unfreiwillige Objekte angewandt werden kann. Aber …
Stumm bewegte Nicodemus die Lippen. Irgendwie war es ihm gelungen, nach einem weltlichen Text zu suchen, ohne den Index zu berühren. Abermals widmete er sich der Seite.
Das Gelesene besagte, dass das Buch ihm mit einem Gotteszauber diese neue Sprache beigebracht hatte. Aber das war doch unmöglich; nur ein lebendiges Wesen konnte zaubern, und nur ein Gott konnte einen Gotteszauber wirken.
Nicodemus las die Seite erneut, nur um sicherzugehen, dass er nichts missverstanden hatte. Der Text war der gleiche geblieben, doch er störte sich an den Wörtern. Von Neuem las er.
Irgendwie kamen ihm die Wörter »altertümichen«, »unmittelbeuren« und »Sprache« eigenartig vor. Er betrachtete jedes für sich und fragte sich, was ihn daran störte.
Ihm kam ein entsetzlicher Verdacht.
»Nein!«, flüsterte er, wilde Furcht wütete in seinen Eingeweiden. »Nein! Das kann ich nicht getan haben!« Er wankte näher heran, um ganz sicher zu gehen. »Barmherzige Götter, nein!«
Und er wurde von einem Entsetzen gepackt, das auch nicht hätte größer sein können, wenn Los leibhaftig vor ihm gestanden hätte. Er wusste, dass in dem Wort »altertümich« irgendwo ein zweites »l« sein sollte. Und »unmittelbeuren« sollte in »aren« enden. Nur ein Trottel konnte »Sprache« am Anfang ohne »sch« schreiben – Schprache. Oder war es womöglich »Schprahche«, aber ganz bestimmt nicht »Sprache« – das war ja geradezu lächerlich.
Dafür konnte es nur eine Erklärung geben: Sein kakographischer Geist hatte den Index mit Schreibfehlern infiziert.
Darauf kam es nun auch nicht mehr an, redete sich Nicodemus ein. Er hatte das Artefakt ohnehin stehlen wollen.
Doch die Angst saß ihm im Nacken und ließ sich nicht so einfach wieder zum Schweigen bringen. Ein Artefakt zu entwenden war ein schwerwiegendes Verbrechen, und nichts verabscheuten Zauberer mehr, als die Zerstörung magischer Gegenstände. Wenn sie ihn in diesem Moment erwischten, würden sie ihm für immer die Gabe des magischen Schreibens nehmen. Schlimmer noch, ihr Hass auf ihn und die anderen Kakographen würde sich verhundertfachen. Erwürde zum berüchtigsten Fehlschreiber avancieren, seit James Berr vor so langer Zeit jene Zauberer umgebracht hatte.
»Beruhige dich doch«, gemahnte er sich zaudernd. Vielleicht war auch nur diese eine Seite verschrieben. Und außerdem war das Buch beinahe vierhundert Jahre alt, damals schrieb man womöglich noch anders.
Mit der Absicht, Magister Shannons neuere Abhandlung über die Intelligenz von Texten zu finden, streckte Nicodemus die Hand aus und blätterte eine Seite um. Beklommen las er:
Über die Wirkungsweise von Verkettungen auf die Zweifachkognition in halbautonomen unsinnigen & sinnlosen Numinusgegenzaubern von Agwu Shannon.
Im Zentrum jüngster Zauberintelligenzforschung stand die Notwenigkeit einen Aspekt der sprachlichen …
Beim letzten Wort schloss Nicodemus stöhnend die Augen. Wie konnte das nur angehen? Vielleicht, so dachte er, waren die magischen Texte überhaupt nicht betroffen. Vielleicht hatte sein Geist nur Schreibfehler in die weltlichen Texte hineingebracht.
Nicodemus presste die Handfläche auf die Seite und dachte an einen Zauber namens »Berührmich«. Seine Wahl fiel auf diesen Zauber, weil er aus einer einfachen Runensequenz bestand und er so auf Anhieb sagen könnte, ob die Version im Index fehlerhaft war oder nicht.
Wie der Haken eines Anglers, der eine ahnungslose Forelle aus dem Fluss zerrt, riss der Index Nicodemus’ Geist aus seinem Schädelbett und schleuderte ihn durch die Luft.
Nicodemus brauchte einen Moment, um seine neue Umgebung wahrzunehmen. Hier hatte er weder Augen noch Körper. Es gab kein
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