Nicodemus
Oben und Unten, sondern nur eine allumfassende Dunkelheit.
Aus der ersten Überraschung wurde erneut Angst. Die Dunkelheit lastete immer schwerer auf Nicodemus, wie feuchte, schwüle Luft. Er wollte sich davon befreien, doch ohne Erfolg. Wollte schreien, hatte aber keine Lungen, wollte weglaufen, hatte aber keine Beine.
Endlich gelang es ihm unter großen Mühen, sich zu entspannen. Allmählich öffnete sich sein Geist für diese seltsame neue Welt. Winzige glitzernde Partikel schwebten um ihn herum. Ihr Leuchten wurde stärker, sie strahlten wie Edelsteine, die von unsichtbaren Zweigen herabhingen.
Sein Geist sah immer schärfer, und ihm war, als triebe er im nächtlichen Himmel. Die glänzenden Punkte waren zu Sternen von unterschiedlicher Form und Farbe geworden. Einige strahlten in grellem Smaragdgrün, andere glommen in so trübem Indigo oder Elfenbein, dass sie verschwanden, sobald Nicodemus sie näher betrachten wollte. Schließlich begriff er, dass das schwarze Firmament die Welt im Index war. Nun erkannte er auch seinen Körper, weit unter sich auf dem Boden. Ihm wurde schwindelig.
Im Index tauchten silberne und goldene Sterne auf. Immer klarer nahm Nicodemus den Nachthimmel des Buches wahr, und innerhalb kurzer Zeit konnte er plötzlich unsagbar weit sehen. Die Sternenschar erstreckte sich ins Unermessliche.
Schlagartig erkannte er, was er dort eigentlich sah. Es waren keine Sterne, sondern Zauber. Und tatsächlich blickte er durch den Index auf alle Texte in Starhaven.
Sein Geist dachte mit den Zaubern im Index. Er hatte Vierfachgedanken! Es fühlte sich herrlich an, einfach traumhaft! Doch die Hochstimmung verflog schnell, als Nicodemus wieder einfiel, warum er überhaupt in den Index eingedrungen war.
Der Berührmich-Zauber!
Einer der Sterne leuchtete heller und kam wie ein Komet auf ihn zu. Kurz darauf krachte der Zauber in ihn hinein und zerfiel lautlos.
Als Nicodemus die Hand vom Index zurückzog, kehrte sein Geist mit einem Mal in seinen Kopf zurück. Überrascht blinzelte er. In der knochigen Gefangenschaft seines Schädels war es überaus unbequem. Nicodemus schüttelte den Kopf, und die Gedanken schwappten wie Seetang umher.
»Igitt…igitt!«, sagte er.
Und nach und nach passte sich der Geist dem Schädel wieder an und Nicodemus konnte endlich klar denken.Ein neues Wissen um den einfachen Berührmich-Zauber steckte nun in ihm. Die Runensequenz des Zauberspruchs stand ihm so deutlich vor Augen, als hätte er sie mindestens tausendmal geschrieben. Doch die Reihenfolge war an manchen Stellen nicht eingehalten – das wusste er, denn Berührmich war einer der wenigen Zaubersprüche, dessen korrekte Schreibweise er sich eingeprägt hatte.
Nun konnte er also sicher sein: Die Verbindung mit seinem Geist hatte eines der wertvollsten Artefakte des Ordens verschrieben.
Nicodemus vergrub das Gesicht in den Händen. »Nein…nein…«, wimmerte er. Tief beschämt schloss er die Augen. Man würde sich für immer an ihn als den Kakographen erinnern, der Starhavens kostbarstes Artefakt zerstört hatte.
»Moment!«, stotterte er. »Moment mal.« Eine letzte Hoffnung bestand noch. Wenn er seinen versehrten Geist heilen könnte, könnte er vielleicht auch den Index heilen. »Zeig mir alle weltlichen Dokumente, die sich mit der Heilung von Kakographie befassen«, befahl er.
Das Buch begann zu blättern, und Nicodemus sandte ein Stoßgebet zu Hakeem. Als der Index fertig war, blickte Nicodemus mit angehaltenem Atem auf die Seite.
Doch sie war leer.
Resigniert ließ er die Schultern hängen. Mit seiner Kakographie hatte er den Index zerstört. Ihm war, als müsste er sich noch einmal übergeben.
»Na, hoffentlich bin ich wirklich der Halkyon«, murmelte er vor sich hin. Andernfalls würde er sich niemals vergeben, einen solch wundervollen Gegenstand ruiniert zu haben.
Seine Hände zitterten.
»Verdammt«, knurrte er. »So will ich nicht sein.« Er schloss die Augen. »Ich will nicht schwach sein. Ich will kein Versager sein.« Er musste seine Entschlossenheit zurückgewinnen, um den Golem zu besiegen und seine Kakographie zu bezwingen. Wenn er sich zusammenriss und beherzt ans Werk ging, könnte es ihm gelingen. Für Angst oder Schuldgefühle blieb da keine Zeit mehr. Trotzig starrte erauf den Index, verdrängte alle anderen Gedanken aus seinem Kopf, und dachte einzig an die drei Asterisken auf Shannons Forschungstagebuch. Dann legte er seine Hand auf die leere Seite.
Pfeilschnell schoss sein
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